Was geschah mit Gordon Brown?
Dass die Selbstaufklärung der Gesellschaft nicht in jedem Medium ankommt, enthüllt uns das bizarre Politikspektakel anlässlich der britischen Parlamentswahlen 2010. Es lohnt sich hier für einen Moment lang in die Niederungen demokratischer
Politik zu steigen, um den Luhmannschen Theorieansatz besser zu verstehen. Premierminister Gordon Brown trug nach dem üblichen Bad in der Menge noch ein sendefreudiges Mikrophon am Revers, als er wütend von seiner Wahlkampfveranstaltung im Auto davon rauschte. Er ärgerte sich lauthals über seine letzte Begegnung
mit der Wählerin Gillian Duffy. Die sei eine bigotte (bigoted) Person, verkündete er seinem »inner circle«, während die Broadcasting-Ohren weiter lauschten. Zuletzt hatte sie, die angebliche Labour-Wählerin seit Urzeiten, noch kritische Fragen zur ungezügelten Einwanderung osteuropäischer Immigranten und
Staatsverschuldung gestellt: «All these Eastern Europeans that are coming here. Where are they flocking from?” Dabei war klar, dass Brown bei solchen Fragen nicht glänzen kann, weil er sich in jedem Fall in irgendein Fettnäpfchen setzen würde. Der als erregbar geltende Gordon Brown fand diesen Auftritt »lächerlich«
und herrschte seine Mitarbeiter an, dass sie es gewagt hatten, ihm diese bornierte Person vorzusetzen. Hatte Brown Recht? Luhmann sieht es so: »Die Politik muss, mit anderen Worten, in der Lage sein, einen eigenen unmittelbaren Kontakt zum Publikum herzustellen, dieses zur politischen Kommunikation heranzuziehen und
Rollenmuster dafür bereitzustellen.« Wer aus der »Rolle« fällt mit Fragen, die nicht in Minuten zufriedenstellend beantwortet können, ist zwar nicht für die Politik, wohl aber für getriebene Wahlkämpfer inakzeptabel. Wenn Politiker Antworten auf Probleme des Wählers geben, geht es ausschließlich um den
Sympathiewert der Antwort, nicht um Wahrheit, Überzeugung oder Widerspruchsfreiheit. Brown bemühte sich später beim reuigen Kuchenessen mit Imageschädling »Gillian« (!) um Schadensbegrenzung. Er habe sie missverstanden – wo doch jeder wusste, dass nichts misszuverstehen war. Nach dem »insult-the-voter
masterpiece« (Paul Waugh) habe sie seine Entschuldigung angenommen, indes reichte es nicht aus, Mrs. Duffy noch einmal zu bewegen, mit ihm gemeinsam vor die Kameras zu treten.
Gordon Browns harsche Bemerkungen über Gillian Duffy werden in der lüsternen Presse reflexartig als ein seltener Moment der Entlarvung mitten in der üblichen politischen Heuchelei hochgejazzt. »Wenn man eine Zeitung liest, weiß man, dass man
eine Zeitung liest, und man weiß auch, dass für die Zeitung geschrieben und redigiert wird, so hält sich der mediale Konstruktivismus an die Realität seiner eigenen Konstruktionen.« Luhmanns Medienkonstruktivismus muss sich allerdings selbst befragen lassen, warum denn dieses Wissen um die durch und durch
konstruierte Realität des rechtschaffenen, ehrlichen, um Sach- und nicht Personalfragen bemühten Politikers kollabiert. Im Fall der Brownschen Absetzbewegung bricht eine riesige Diskussion los, als habe je einer daran gezweifelt, dass der interne politische Diskurs wie in allen professionell betriebenen Tätigkeiten
zynisch sein kann und der externe eben just diese Bigotterie ad nauseam inszeniert, über die sich Gordon Brown bei der Wählerin erregt. Entlarvt wird also niemand, alle repetieren ihre bigotten Rollenmuster, was unter anderem Luhmanns wissenschaftliches Desinteresse an »Menschen« plausibel macht: "Ich lehne
alle Einladungen ab, die mich veranlassen wollen, über den Menschen zu sprechen. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so sagen darf."
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