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Zwischen Kannibalismus und Kantianismus

 

Zum Tod von Claude Lévi-Strauss

 

Claude Lévi-Strauss war der große Hexenmeister des Strukturalismus, der zahlreiche Wissenschaftskonzepte seiner Zeit verarbeitete und mit seinen brillanten Analysen weit über die Anthropologie und Ethnologie hinaus berühmt wurde. Paradox formuliert war Lévi-Strauss der Strukturalismus höchstselbst, während diese  faszinierende Mode der Welterschließung vom wissenschaftlichen Anspruch her doch bar jeder subjektiven Signatur sein wollte. Lévi-Strauss wurde wegen seiner hohen literarischen Qualitäten mit herausragenden Schriftstellern verglichen, in die Philosophie eingemeindet und teilte das Schicksal diverser französischer Intellektueller, nicht mehr auf eine einzige „Disziplin“ festlegbar zu sein. Er orchestrierte seine Texte musikalisch, etwa seine mytho-kulinarische Schrift „Das Rohe und das Gekochte“, den ersten Band der "Mythologica“, die Referenzen zur Tetralogie Wagners „Der Ring des Nibelungen“ expliziert. Der Wissenschaftler will Werke schaffen, die musikalisch sind, weil die Verwandtschaft von Mythos und Musik Epistemologien eröffne, die weit über das hinausreichen, was bisher vorliege. „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ schlägt 1949 wie eine Bombe in den französischen Wissenschaftsbetrieb ein. Simone de Beauvoir feiert den neuen Superstar in den „Temps Modernes“, um ihn gleich dem Sartreschen Existenzialismus zuzuschlagen.

 

Claude Lévi-Strauss arbeitete aber anders als die Existenzialisten auf der Schnittstelle von Natur und Kultur, jenem, auch politisch brisantem Transformationsort, der wirkungsmächtig mit Rousseau in Philosophie und Politik eingeleitet wurde. Dessen radikale Zivilisationskritik nahm Claude Lévi-Strauss teilweise auf, um dem inzwischen anrüchigen Kolonialismus auch die wissenschaftliche Rechnung zu präsentieren. Er war der Auffassung, dass die Ethnologie seiner Bauart in der Lage wäre, Kolonialdesaster, die aus dem überheblichen Nichtbegreifen fremder Kulturen möglich werden, zu verhindern. Das Wissen um das wilde Denken, das nicht weniger raffiniert gebaut sei als das vorgeblich aufgeklärte, eröffnete einen völlig neuen Blick auf die traurigen Tropen. Die Demontage des imperialen Blicks auf die Wilden lag in der Luft. Aber erst Claude Lévi-Strauss hat ein multidimensioniertes Fundament in der kritischen Nachfolge des Positivismus eines Auguste Comte und der empirisch aufgerüsteten Soziologie Emile Durkheims vorgestellt, das vor allem durch die linguistische  Methode geprägt wurde. Als die strukturalistische Mode blasser wurde, gab es viele Denker, die eilig versicherten, alles, nur keine Strukturalisten zu sein. Claude Lévi-Strauss dagegen war bekennender Superstrukturalist. Er fahndete ständig nach Strukturen, die dem jeweiligen Forschungsobjekt zugrunde lagen, von denen sich der Wissenschaftler nicht ablenken lassen darf durch vordergründige Inhalte der Mythopoiesis. Das intrikate Zusammenspiel der Elemente lernte Claude Lévi-Strauss maßgeblich in Roman Jakobsons Linguistik-Vorlesungen, die er als „eine Art Blendung“ erfährt und von Ferdinand de Saussure, der die Arbitrarität der Zeichen betonte, die erst im System zu „leben“ beginnen. Berühmt sind Strauss´ Untersuchungen über die Verwandtschaftsbeziehungen und das Inzestverbot. Wurde das Inzestverbot zuvor biologisch und moralisch interpretiert, bestand Claude Lévi-Strauss darauf, dass die sozialen Konsequenzen dieses Instituts erst den kommunikativen Raum konstituieren, der für den Fortschritt von Gesellschaften selbstverständlich ist. Plastisch formuliert: Wer seine Schwester heiratet, kann nicht mit seinem Schwager fischen gehen. So wird das Inzestverbot ein prägnanter Ausdruck für die Umwandlung einer vormals naturalistischen Betrachtung der Konsanguinität zu einem zentralen Kulturmoment menschlicher Allianzen. Claude Lévi-Strauss hat mit diesen Erkenntnissen auf der Schnittstelle von Natur und Kultur einen nicht geringen Teil des wilden Bodens urbar gemacht und zugleich die Kultur des Westens reflektiert. Dass wir selbst gegen jedes Selbstverständnis Wilde bleiben, wurde später in einer weiten Literatur zwischen Zeitgeist und Wissenschaft zum allfälligen Untersuchungsgegenstand. Allerdings könnten diese Dezentrierungen der europäischen Selbstgefälligkeit – wie immer – nicht die ganze Wahrheit sein. Roger Callois hat sich mit Claude Lévi-Strauss fundamental entzweit, weil dieser Strukturalismus die Unterschiede zwischen den Kulturen ausblenden würde. Claude Lévi-Strauss würde durch den Splitter im eigenen Auge daran gehindert, die Balken in den Augen der anderen zu sehen. Kulturen, die Kannibalismus und andere Widerwärtigkeiten kennen, würden hier künstlich aufgewertet, während der Westen durch seine Neugier und seine Wissenspraxis diesen Kulturen gegenüber überlegen sei. Claude Lévi-Strauss reagiert auf diesen eurozentrischen Machtgestus sauer: Man möge sich nicht in der Küche umsehen, um über Moral zu urteilen, sondern die Zahl unserer Tötungen mit denen der Papuas vergleichen.

 

Das wilde Denken

 

Psychologie, Biologismen und ähnlichen Deutungsmustern wurde damit der Prozess gemacht. Doch die abstrakte Kodierung der Mythologeme setzte sich dem Verdacht aus, eine Art von Neo-Kantianismus zu predigen, der darin besteht, das transzendental Kollektive wider die soziokulturellen Differenzen zu konstruieren. Die Codierungen, die es aufzuspüren galt, fanden sich programmgemäß über die Grenzen der jeweiligen Ethnien hinaus, was aber für den Ethnologen nicht zum Verzicht auf genaue empirische Beobachtungen werden darf. Ihre Regeln zu erkennen bedeute, das System zu verstehen, nach dem Gesellschaften und Menschen funktionierten. Der Ansatz war kühn bis kopernikanisch, weil von den manifesten Inhalten gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen nun auf abstrakte Schaltungen der mythologischen Elemente umgestellt wurde. Niemals wurde dieses entsubjektivierte Verfahren deutlicher als in der späten lakonischen Aussage des buddhistisch inspirierten Meisters: „Ich bin fest davon überzeugt, dass das Leben keinen Sinn hat, dass nichts irgendeinen Sinn hat“.  Skeptiker wie Claude Lefort sahen das kritischer, wenn er ein Grundproblem des Strukturalismus formuliert: Die mathematischen Modelle verdrängten die Wirklichkeit. Das Risiko, Modelle als Seinstatbestände auszugeben, lauert bei allen Untersuchungen, die Phänomene symbolisch „hochrechnen“, um nicht im „Realen“ zu ertrinken. Ausdrücklich erklärt Lévi-Strauss im Bezug auf das Werk von Marcel Mauss die Autonomie des Symbolischen wie des Signifikanten im Blick auf die Unabhängigkeit der Sprache und der Verwandtschaftsregeln. Vielleicht konnte er das Chaos der „frei flottierenden Signifkanten“ nicht voraussehen, die sich gleichsam wie terroristische Viren in den postmodernen Körper einschlichen, ja ihn letztlich substituierten. Denn so verdienstvoll die Erkenntnis von Bedeutungsverschiebungen in der jeweiligen artikulatorischen Praxis auch war, so blieben die Standortbeschreibungen, in denen sie zu Bedeutungen, sprich: Signifikaten, hätten werden können, in den späteren Aufgipfelungen des Poststrukturalismus oft genug aus. Nicht nur Revolutionen, auch Modelle können ihre Kinder fressen.

 

Das Verdienst Claude Lévi-Strauss´ bleibt indes die neue Sichtweise auf die Konstruktion von Kulturen, deren Regeln tiefer gelegt sind, als es die rationalen Rekonstruktionen und Selbstverständnisse zu wissen glauben. Die strukturale Anthropologie hat immens zum Verständnis der Kulturen und ihrer Kommunikationsweisen beigetragen, während die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, die Entwicklungsunterschiede und anderen Weltentfaltungsmomente nicht jederzeit zureichend gedeutet werden können. Insofern sind Claude Lévi-Strauss Erkenntnisse in einer globalisierten Welt weiterhin wertvoll. Welchen Codierungen folgen islamistische Terroristen? Gibt es hier übergreifende Regeln, die sie mit allen anderen Terroristen gemein haben, was konfliktgeladene Exkurse in religiöse Dogmatiken bedingt wertvoll erscheinen ließe. Das Problem der Wirklichkeit bleibt auch nach Claude Lévi-Strauss´ Erkenntnissen ihre Unbotmäßigkeit gegen ihre Verortung im Spiel der Signifikanten. Der Strukturalismus hat das Subjekt, den Menschen zugunsten von Codes, Regeln, Ordnungen, Systemen verdrängt und das war zunächst heilsam, doch hatte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht, wenn das verdrängte Subjekt für Dynamiken verantwortlich zeichnet, die in diesen Hallen der strukturalen Anthropologie keinen Platz hatten. Der Strukturalismus ist eine wissenschaftliche Episode geblieben, die im Höhenrausch eines Paradigmas begann, um auf sperrige Wirklichkeiten zu treffen. „Entkolonisierung“ könnte dieser Welterschließung nach in letzter Konsequenz eine globale Maßnahme der Entsorgung der Erde vom Menschengeschlecht heißen, da Claude Lévi-Strauss ähnlich wie Michel Foucault das Ende der Welt nicht als Schlussveranstaltung des selbstgewissen Menschen sieht. Ob daher der Strukturalismus humanistisch ist oder nicht, mag angesichts der Absicht von Lévi-Strauss, die Anthropologie in eine „Entropologie“, eine Wissenschaft von den soziokulturellen Desintegrations- und Zerfallsprozessen zu verwandeln, Stoff für endlose Räsonnements liefern. Gegenüber diversen gegenwärtigen Fortschrittsnaivitäten liefert dieses Konzept aber weiterhin zahlreiche Anregungen, hier bei unseren zivilisierten Wilden nach der Auflösung sozialer Ordnungen und ehedem approbierter Formen des Zusammenlebens zu fragen.

 

Goedart Palm

 

 

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