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Gesichter und Masken

Hans Beltings hochkarätige und solitäre Abhandlung demonstriert, 
dass es keine paradigmatische Verwendung des Porträts mehr 
geben kann, sondern der kontextualistische Einsatz von Porträts 
Teil politischer, ökonomischer und ästhetischer Strategien ist.

Von Goedart Palm

Regieren Gesichter die Welt? Zu vielen Erfolgsgeschichten stellen sich die passenden Gesichter ein, etwa zu Politikergesichtern, deren verbindlich gemeißelte Gesichtszüge Entschiedenheit und Durchsetzungskraft ausstrahlen. Wie willst du US-Präsident mit dem »falschen« Gesicht werden? John F. Kennedy und der Schauspieler Ronald Reagan hatten das richtige Lächeln, andererseits wurde Richard Nixon mit einem Gesicht gewählt, das seinen Karikaturisten als Geschenk Gottes erschien. Ist die Magie des Gesichts ein vordergründiger oder wenigstens doch manipulierbarer Zauber? 

Die Chimäre des Selbst

»Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich.« Albert Camus markiert damit ein existenzielles Problem jeder Gesichtsbetrachtung. Gesichter werden gemacht, sie werden gelesen und künden von der Biografie einer Person. Person? Hier beginnen die Probleme des Selbst. Gibt es eine authentische Person, eine unhintergehbare Konfiguration des Selbst? Augenscheinlich nicht. Bereits die Begrifflichkeit der »Persona« verrät das fragile Authentizitätsmodell, das sich auf Masken verlässt. Im antiken Theater bezeichnete die »Persona« eine Maske mit typisierenden Zügen. Erving Goffmans »Wir alle spielen Theater« erläutert das Rollenspiel als alltäglichen Standard, der uns so geläufig ist, dass wir selbst über die eigenen, uns in Fleisch und Blut übergegangenen Inszenierungszusammenhänge wieder aufgeklärt werden müssen. Die Einforderung der Authentizität wird durch die unbewusste Internalisierung von Rollenmustern möglich, die sich unter anderem in das Gesicht einschreiben. So entstehen fortwährend Authentizitätsmasken, die erst ein erfolgreiches Rollenspiel eröffnen und die Bereitschaft des Gegenübers begründen sollen, Vertrauen zu bilden. Dass solche Einsichten flüchtig sind, davon künden »persönliche Ehrenwörter« mit einstudiertem Gesicht, denen wir so voraussetzungslos nicht mehr vertrauen.

Die Flüchtigkeit des authentischen Selbst wird inzwischen auch durch die Neurowissenschaft markiert. Dass das Selbst eine Konstruktion ist, gehört zu deren gegenwärtigen Grundüberzeugungen. Thomas Metzinger bestreitet ein »substanzielles Selbst«. Auch einen »essenziellen Ich-Kern« vermag er nicht zu erkennen. Wie soll in diesem Ego-Tunnel ein Gesicht entstehen, das uns tief in eine psychisch unverrückbare Wirklichkeit des Trägers führt? Aus der Perspektive der Neurowissenschaft wäre die Geschichte des europäischen Porträts letztlich ein medialer Irrtum. Denn Metzinger sieht im Selbst kein »Ding», sondern einen »Prozess». Doch wie kann ein Prozess in einem statischen Bild zum Ausdruck kommen? Nun könnte man, um in der Terminologie Metzingers zu bleiben, das »phänomenale Selbstmodell«, also die neuronale Selbstrepräsentation, als authentisches Selbst oder wenigstens dessen Surrogat nehmen. Wir haben dann keine Seele, die ohnehin durch die Vielschichtigkeiten einer mit sich selbst zerstrittenen Psyche abgelöst wurde, sondern eine je spezifische »neurofunktionale Architektur«. Doch vermag eine so komplexe Struktur durch Gesichter und deren begrenztes Muskelspiel repräsentiert werden? Menschen erkennen andererseits Gesichter noch in den elementarsten Zeichen, was wiederum eine hohe Schule der »Lektüre« von Gesichtern nahe legen könnte. »Die Menschheit ist allgemein geneigt, alle Dinge als sich selbst ähnlich aufzufassen und diese Eigenschaften auf alle Dinge zu übertragen. Wir erkennen menschliche Gesichter im Mond und Armeen in den Wolken«, konstatierte David Hume in der »Naturgeschichte der Religion«. Diese Kraft hat viel mit Projektionen und der Kreation von anthropomorphen Göttern zu tun, doch wenig mit Innenschau. Evolutionär betrachtet gilt indes: Wer seinen Feind nicht erkennt, ist tot. Doch hier geht es regelmäßig nur um psychische Grundtatsachen, um Kommunikation und Interaktion in einem alarmistischen Modell des Überlebens zu justieren: Angst, Aggression, Freude, Leid etc. Und selbst die mögen im »Pokerface«, in einer empathielosen Gesichtsmaske, verschwinden.

Kunstgeschichtsbetrachtungen, die in Porträts Seelenschilderungen als authentische Nacherzählung eines Selbst erkennen, sind längst unseriös geworden. Aber hat denn Rembrandt nicht die Seele seiner Modelle, allen voran seine eigene, dargestellt und gilt er nicht deshalb als einer der größten Porträtisten der Kunst- respektive Darstellungsgeschichte der Menschheit? Wie fragwürdig solche Charakterisierungen sind, macht schon der Weg deutlich, den die Deutungsweise des menschlichen Gesichts und des »dahinter« liegenden Selbst genommen hat. Zunächst gibt es nur Typen, die in Masken wiedergegeben werden. Individualisierende Darstellungen werden erst seit der Renaissance zum neuen Standard des »selbst-bewussten« Menschen. Das Menschenbild wandelt sich und damit auch die Porträts. Aber verrät das individualisierte Gesicht wirklich mehr als die Selbstprätention des Abgebildeten und die dem mehr oder minder kollusiv zugeordnete Wahrnehmungsweise des Abbildenden? Ist eine Gesichtslesekunst nicht genauso zum Scheitern verurteilt wie die Handlesekunst und andere Formen der magisch-animistischen Welterfahrung?

 

Gesichtsmythen der Gesellschaft 

Hans Belting folgt in »Faces. Eine Geschichte des Gesichts« dem bisher wenig beachteten Leitmotiv, dass eine diskrete Grenzziehung zwischen Gesicht und Maske unmöglich erscheint. Auch wenn wir Masken vom Gesicht reißen wollen, zumindest hinter die Maske blicken wollen, könnte es sich erweisen, dass das Gesicht selbst eine Maske ist. Harold Rosenberg beobachtete in Saul Steinbergs Werk das Prinzip einer Demaskierung, die dahinter ständig neue Masken produziert. Könnte es sein, dass die Maske das einzige Gesicht ist, das der Mensch mehr oder weniger authentisch einsetzt? Der »Wizard of Oz«, der seine mediale Herrschaft auf  sein künstlich projiziertes Donnerwolkengesicht stützt, macht uns das autogene Prinzip klar: Hast du die äußeren Symbole der Herrschaft, antizipierst du dein Herrscherwunschbild kontrafaktisch, wirst du bald der sein, der du schon je sein wolltest. Zahllose Porträts der Herrschaft, die malerisch veredelten Gesichter von Kaisern und Königen, gehören zum Bildinventar alteuropäischer Propagandapolitik, die erst Goya mit einigen Risiken durchbricht. Sie verschränken zugleich Politik und Persönlichkeiten in Psychoprofilen, die Unterworfenen Selbstverständnis und Legitimation der Herrschaft im Porträt plausibel machen. Doch von hier aus sind die Rückschlüsse auf die facialen Inszenierungen noch weitreichender: Das Individuum ist eine Projektion, Selbsterkenntnis im neuzeitlichen introspektiven Sinne eine Chimäre. Das »Erkenne dich selbst« (Gnothi seauton) des delphischen Apollon war dagegen ein unspezifischer, maskenkompatibler Appell an die kreatürliche Geworfenheit, an die Grenzen menschlicher Pracht und Allmacht.

Die Erkenntnis, dass Authentizität und Maske keine widerstreitenden Persönlichkeitskonstruktionen sind, wurde vermutlich von keinem Denker so vehement bestritten wie von dem Bekenntnisfanatiker Jean-Jacques Rousseau. Der Prediger des Natürlichen glaubte das Gegenüber von Gesicht und Maske in schärfster Weise, markieren und demaskieren zu können: »Der Mensch in der Gesellschaft existiert gänzlich in seiner Maske.« Rousseaus Erziehungsideal zielt darauf ab, seinen literarischen Protokindern (seine leiblichen schickte er bekanntlich in das Waisenhaus) »Masken-Immunität ein(zu)impfen« (Richard Weihe). Das forciert nicht nur einen Terror der Natürlichkeit, der zum double-bind des modernen Neurotikers gehört, sondern verkennt fundamental unabdingbare Sozialbeziehungen zwischen Menschen. Natürlichkeit als unhintergehbares Ethos des Selbst kann nicht in jede Kommunikation als Verhaltensnorm eingeschrieben werden, weil damit die Funktionalität gesellschaftlicher Beziehungen, um nicht von strategisch notwendigen Verstellungen des jeweiligen Aktors zu sprechen, zum Erliegen käme. Nur ein außergesellschaftliches Verständnis des Menschen könnte das »Porträt« als reinen Ausdruck individualisierter Subjektivität postulieren. Wie steht es also um das Verhältnis von Gesicht und Maske?

Für Hans Belting repräsentiert erst die Maske das Gesicht. Ein Gesicht ist ständig in Bewegung und nicht auf den Begriff zu treiben, was die Option für wechselnde, rollenspezifische Masken nahe legt. Dieses spannungsreiche Komplementärverhältnis ist geradewegs die Geschichte des Gesichts. So wird das Gesicht zum Meditationsobjekt, herausgenommen aus dem Tempo der Zeit, oder man sucht später kollektive Gesichter, »Volkscharaktere«, Typen, die sich in die Kategorien gesellschaftlicher Widersprüche einstellen lassen. Nicht nur Kleider, sondern zahlreiche Zeichen der Macht maskieren Gesichter bis zur Kenntlichkeit. Wir kennen die Sozialfotografie, die jedes Gesicht mehr oder minder miserabilistisch kollektiviert. Das nimmt indes kaum den Glauben, dass auch hier der Kuleschow-Effekt regiert, dass andere Kontextualisierungen und Subtexte wieder andere »Persönlichkeiten« generieren würden. Pointiert sind Hans Beltings Exkursionen in diverse historische Gesellschaften, die ihr je eigenes Paradigma des Gesichts konturierten. So waren die Gesichter der Römer patho-gnomisch und nicht physio-gnomisch erfasst. Der Ausdruck schob sich vor eine transzendente Identität, was später zu einer exzessiven Gesichtsausdruckskunst führte, die bei Franz Xaver Messerschmidts barock-klassizistischen Eskapaden bereits den psychiatrisch vermessenen Menschen vorscheinen lässt und bei Francis Bacon zu absurd-existenzialistischen Gesichtsexplosionen führt. Gerade das bei Bacon außer Kontrolle geratene Gesicht wird zur Illustration eines Zivilisationsprozesses, der Gesichter moderiert, ihnen Expressivität austreibt und Emotionen hinter der Würde regungsloser Porträts verstecken will.

Zentral wird die Tendenz, dass die Maske sukzessive verschwindet und stattdessen das Gesicht zur Maske wird. Wir beobachten eine eminente psychologische »Selbst-Disziplinierung«, die zum evolutionären Programm zivilisatorischer Verfeinerungen wie sozialer Ausdifferenzierungen gehört. Die Maske wird in der Neuzeit nach Hans Belting schließlich mit dem ganzen Körper gespielt. Die Gesichtslesekunst beginnt ungefähr zu der Zeit, in der das Gesicht nun höfischen Regeln/Strategien folgend inszeniert werden muss, um seinen Träger überhaupt am gesellschaftlichen Leben erfolgreich teilnehmen zu lassen. Die Kunst, sich auf der Bühne des Lebens geschickt zu verhalten, differenziert Lebensformen und macht das Individuum geschmeidiger für immer neue Rollenzumutungen. So wird das Gesicht zur bearbeitungsbedürftigen Schnittstelle der Macht, was keinen Preis zu hoch erscheinen lässt. Und das Ende dieser Geschichte ist längst nicht in Sicht: Vor wenigen Tagen präsentierte sich die Sängerin Madonna mit goldenen, diamantbesetzten Zahnkronen, um nun in dieser inszenierten »Verruchtheit« des Gangsters Energien zu »verstrahlen», die altersbedingte Gesichtscharisma-Verluste kompensieren mögen. 

 

Fotografie und Gesicht

Ist die Wahrheit des Gesichts, seine psychologische Epiphanie in der Fotografie besser aufgehoben? So euphorisch die Fotografie begrüßt wurde, so instantan werden ihre verististischen Eigenschaften, nun die wirkliche Wirklichkeit des Gesichts zu schildern, enttäuscht. Der Fotograph André Adolphe-Eugène Disdéri glaubte noch an die totalisierende Kraft des neuen Supermediums, wenn nur das Objekt der Darstellung ideal posieren würde. Das 1854 von ihm patentierte Carte-de-visite-Verfahren hielt mit einer Kamera mit vier Objektiven gleich mehrere Porträtbilder fest, was die Idealität der Darstellung als technisches Problem erscheinen lässt. Alexander Rodtschenko dagegen passte die ganze Richtung nicht. Der Schnappschuss sei am Puls der Zeit, Ewigkeit der Malerei und synthetisches Porträt verwarf er. Das führte er so weit, dass er zufällige Perspektiven wählte, um die jederzeit aus den Fugen geratene Welt zu erfassen. Retrospektiv erscheinen Rodtschenkos Fotos selbst wie ewigkeitsverdächtige Preziosen, was wiederum beweist, dass jede Zeit nur ephemer entscheidet, wie sie den Konflikt zwischen dem Ephemeren und dem Ewigen auflöst. Auch Walter Benjamin traute der Fotografie viel zu. Der geschärfte Blick für das Physiognomische sollte den Sozialcharakter der Zeit in den sozialen Typen zum Ausdruck bringen. August Sander (»Anlitz der Zeit») galt ihm als einer dieser wirklichkeitsgetreuen Meister. »Sander hat keine Menschen sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, dass das Individuum für die Gruppe genommen werden darf«, assistierte Kurt Tucholsky. Aber ist diese Fokussierung nicht dem Anspruch jener Zeit geschuldet, die hier die Möglichkeiten und bald darauf schon Grenzen einer kritischen Fotografie fand?

Denn wie sich die Fotografie auch diversifiziert, welche Funktionen sie auch immer ihrer Wirklichkeitserschließung zurechnet: Produziert werden Mythen und Masken, wo zuvor die Hoffnung auf unbestechliche Wirklichkeit(en) im neuen Medium so unabweisbar schien. Alphonse Bertillons anthropometrisches System, die Bertillonage, trat als Verwirklichung kühnster Kriminologenträume auf: Eine Identität wird so festgehalten, dass sie sich dem Zugriff der Ermittler nicht entziehen kann. Diese kriminalistische Hoffnung war trügerisch, weil das Gesicht so wandelbar ist, dass einige Jahre ausreichen, das Porträt eines Steckbriefs wertlos zu machen und die Suche nach Körperdaten endlos Zeit verschlingt. Bertillons Widerstand gegen den Fingerabdruck markiert prägnant die neue Ironie der Wirklichkeitserfassung. Was Bertillon für ungenau hält, eröffnete eine Personenfeststellung, die seine Körpervermessung eher nicht oder nur höchst umständlich ermöglichte. Wie in der Morelli-Methode wird der Teil für das Wirklichkeitsverständnis wichtiger als die Betrachtung des Ganzen. Die Signifikanzen der Identität liegen nicht im Porträt. Sie verstecken sich an so irrwitzigen Schnittflächen wie dem Fingerabdruck. Die Geschichte einer vermessenen Identität markiert mit dem Diebstahl der Mona Lisa im Louvre eine wundervolle Ironie. Das wohl berühmteste Porträt der Welt wird von Vincenzo Peruggia im Jahre 1911 gestohlen. Erst 1913 wird dieser dingfest gemacht. Auf der Suche nach dem verlorenen Porträt, das selbst verdächtigt wird, eine Maske zu sein, versagt der Totalerfassungsversuch zugunsten eines vordergründig peripheren Merkmals. Obwohl der Täter (registrierte) Fingerabdrücke hinterlassen hatte und zum weiteren Kreis der Verdächtigen gehörte, erfolgt seine Identifizierung dank der überquellenden Karteikästen Bertillons mit zahllosen Körpermaßen gerade nicht. Die Geschichte der wiedererschienenen Mona Lisa beendet zugleich die Bertillonage und übergibt die Suche nach der Identität an die Daktyloskopie.

Hinter den Abbildungen - auch das per se Maskierungen - verbirgt sich die fundamentale Gegenüberstellung von Schein und Sein. Nietzsche optierte antiplatonisch für den Schein, was aber auch in den Regress führt, dass der »Schein« (wovon) mindestens begriffslogisch einer Wahrheit verpflichtet bleibt. Im Blick auf das Gesicht geht es vor allem um eine Ent-Täuschungsgeschichte, nicht länger Repräsentationen des flüchtigen Selbst zu prätendieren, sondern Konstruktionen zu erkennen, die das Gesicht in wechselnden Verwendungen je anders darstellen. Gesichter haben eine gesellschaftliche Kontur, die nicht nach dem Ich oder Selbst dieses Gesichts fahndet. Politiker tragen seit Anbeginn Charaktermasken, die erst ihr Machtstreben gesellschaftsfähig machen: Würde, Weisheit, Überlegenheit, Bescheidenheit und andere Attribute der Akzeptanz für Wähler werden in das je eigene Gesicht eingearbeitet. Wer diese Insignien seinem Gesicht nicht einverleiben kann, wird nicht überzeugen. Die Arbeit am Gesicht, an den Gesichtszügen bzw. der Mimik wird zur herausragenden Gestaltungsaufgabe, die sich in der Selbstmaskierung zeigt. Die Selbstmaskierung ist unabdingbar, wenn in Gesellschaften komplexe Rollen gelingen wollen. Das ist kein Novum funktional ausdifferenzierter Gesellschaften, sondern das Reproduktionsprinzip des gesellschaftlichen »Theaters«, das evolutionär notwendig ist. Für gesellschaftliche Rollenzuweisungen ist es nicht wichtig, ob das individuelle Gesicht des Rollenträgers wiedergegeben wird, solange die Funktion den ihr gemäßen Ausdruck erhält. Dabei begegnen wir hier demselben Phänomen, das bereits den Streit um das Wesen der Rhetorik seit Jahrtausenden beherrscht. Bedarf die Wahrheit eines angemessenen Ausdrucks, um als Wahrheit wahrgenommen zu werden? Oder verrät der Ausdruck die Wahrheit, von der man sagt, dass sie besonders wahr ist, wenn sie nackt ist?

 

Konsum der Mediengesichter

Hans Belting beschreibt die Medialisierung zugleich als Globalisierung des Gesichts. Thomas Macho spricht von der facialen Gesellschaft, die unablässig Gesichter in den Medien produziert. Macht und Einfluss werden soweit über massenkompatible Gesichter gesteuert, wie es Akzeptanzentscheidungen einer Stimmungsdemokratie notwendig machen. Allerdings leidet dieser offene Tatbestand darunter, dass eben Gesichter erscheinen, während, wie schon Bertolt Brecht gegenüber der Fassadenunwirklichkeit der Moderne beklagte, die Machtstrukturen dadurch nicht offen gelegt werden. Man sieht nur das, was man sieht und man sieht nicht das, was man nicht sieht. Und das gilt für jede Art der Mediengesichtsbetrachtung, die selbst durch ihren Gegenstand usurpiert wird. Zwar gibt es Gesichter, die Macht repräsentieren. Aber es bleibt zirkulär zu glauben, dass Macht- und Einflussstrukturen alleine an Gesichtern abzulesen wären. Jene sprichwörtlichen »Masters of the universe«, die an den Börsen Wohl und Wehe ganzer Nationen verspekulieren, bleiben gesichtslose Figuren. Insofern ist Facialität vor allem ein Signum des demokratisch inszenierten Politischen, das von personaler Akzeptanz abhängig ist. Hier wird die Gesichtsmaske zum Vertrauensgegenstand, zur Wählbarkeitsoption.

Die Kritik der Mediengesellschaft ist ein heiliger Fetisch der Medienwissenschaften. Vermutlich wurden Massenmedien erfunden, um der Kritik einen Gegenstand zu schenken, der gleichermaßen so mächtig in seinen mentalitätsverändernden Wirkungen wie hilflos gegen dem ubiquitären Scharfsinn der Kritiker ist. Das »defacement« ist längst eine fatale Strategie, weil wir doch jederzeit aufgeklärt wurden, dass alltägliche Gesichtsmythen uns Wirklichkeitskonstruktionen vermitteln, die vor allem etwas über die Interessen der Urheber und nicht die Wirklichkeit der Verhältnisse aussagen. Zugleich werden Mediengesichter zu projektiven Flächen, die für die Dauer eines Kinobesuchs und wenig darüber hinaus Identitätskonstruktionen für Zuschauer spenden sollen. Medien werden darüber zu divinen Einrichtungen, hauchen Seelen ein, verleihen Kräfte, wo vorher nur Abbildungen waren. Wahrheit würde hier nur stören. Programmzeitschriften, wie wir sie kennen, erfüllen Nietzsches antiplatonisches Lob des Scheins. Hier werden Gesichtslandschaften zu reinen Oberflächen, zu artifiziellen Werbeprodukten, deren Schönheit in ihrer digitalisierten Glätte liegen soll. Den Effekt beschreibt schon Ovid, wenn er kosmetisch Behandelten bzw. den Nutzerinnen seines Cremepräparats prophezeit, dass sie glatter strahlen werden als ihr Spiegel (Medicamina faciei feminae). Cura dabit faciem. Übersetzt: Das Gesicht ist eine Arbeitsfläche, die weniger im Sinne Camus´ moralisch gelebte Aufrüstungen benötigt als kosmetische Sorgfalt und Eskamotage. »Kosmetik ist die Lehre vom Kosmos des Weibes« höhnte Karl Kraus, so wenig dieser Kosmetik in metrosexuellen Zeiten eine geschlechtsspezifische Wahrheit noch zukäme.

Gesichter sind nicht nur Schicksal, sie werden technisch gemacht. Wie wenig undialektische Ästhetisierungsversuche der puren Schönheit gelingen, belegt bereits die Tradition des Schönheitsflecks respektive Schönheitspflasters (Mouche) als der Konfirmation des Schönen im Hässlichen. Diese dialektischen Pflästerchen der luxurierenden Selbstentstellung folgten einem eigenen Codierungssystem, das vermeintliche Wahrheiten über die Trägerin zum Ausdruck bringen sollte. Hier verwandelt sich die pathognomische Aussage der Maske in eine arbiträre Zeichenstruktur. Das Gesicht verliert als Übermittlung von habituellen oder identitären Zuständen des Trägers weiter an Bedeutung. Die Arbeit am Gesicht wird zunehmend dem Make-up anvertraut, temporären Masken, die dann im Medienpaparazzizeiten vor allem Trägerinnen im wahrsten Sinne des Wortes entlarven, die den morgendlichen Gang zum Bäcker ohne ihren aufwändigen Gesichtsschutz riskieren und ohne Make-up zum Gespött schizoider Medien werden. Das Problem war schon Ovid geläufig, der den maskierten Schönen riet:»Freilich möge der Liebhaber keine Schminktöpfchen erwischen, die auf dem Tisch herumliegen. Nur eine Kunst, die sich zu verbergen weiß, hilft der Schönheit auf.«

Mit der Proliferation von Fotografien werden schon vor der Digitalisierung Gesichter zu einer Währung öffentlicher Erzählungen, die sich fast umstandslos in Geld konvertieren lässt. Gesichtslose Geschichten sind dem »nouveau roman« und ähnlichen Abstraktionen vorbehalten. Selbst die Abwesenheit des Gesichts in der meistausgezeichneten deutschen Werbekampagne der FAZ mit dem Motto »Dahinter steckt immer ein kluger Kopf« repräsentiert das nichtabgebildete, aber bekannte Gesicht in den Erinnerungsspuren der Leser.

Hans Belting spricht davon, dass der mimetische Impuls der Massen gegenüber den Mediengesichtern in das Leere laufe. Diese Zentralbegrifflichkeit Adornos aus der »Ästhetischen Theorie« trägt eine Erblast mit sich, denn die medial temporär gewährte Überwindung der Trennung vom Anderen war je nur ein projektives Heilsprogramm, das Marxisten, Christen und Aufklärer verschiedenster Couleur teilten, ohne je die Widerständigkeit des Gegenübers als fundamentalontologische Tatsache zu akzeptieren. Diese Distinktion der Nichtentfremdung befriedigt nicht. Denn die Massen, so dieser Begriff überhaupt noch eine kategoriale Dimension haben sollte, genießen offensichtlich zugleich die Distanz zu den so erhabenen wie leeren Gesichtern. Auch wenn die Distanz im Identifikationsrausch des Films abhanden kommt, ist die Spannung zwischen dem gottähnlichen Status des Stars und der je eigenen »Geworfenheit« entscheidend. Inzwischen hat das öffentliche Mega-Gesicht längst vielfältige Wandlungen erlebt. In den Bilderfluten werden die Gesichter dekonstruiert und destruiert. Sie werden ihrer magischen Ikonizität beraubt. Sie verkümmern zu lächerlichen Anmerkungen auf Facebook und anderen Community-Medien. Insofern ist das mimetische Bedürfnis der Massen immer ein saturnalischer Maskenball gewesen. Es ist ein Spiel der thymotischen Projektion und ressentimentgeladenen Verwerfung: Ich könnte »Er« oder »Sie« sein. Ich bete diese Götter an, aber dahinter droht ihnen der Orkus der Lächerlichkeit, was Adorno schon in der Ästhetischen Theorie als »rancune« der vom Glück Ausgeschlossenen deutete, wenn sie die Plakatgesichter unerreichbarer Schönheiten übermalen. 

Das Mediengesicht als kollektive Droge der Massen, so sie denn existiert haben mag, verliert seine Wirkung. Dass Gesichter Konstruktionen sind, wird im Zeitalter digitaler Schöpfungen zum aufdringlichen Wissen, das sich in zahllosen Demontagen und satirischen Entstellungen lustvoll entäußert.  Google wirft zu fast jedem Namen Porträts und ihre Entstellungen aus, deren Herkunft aus den Dunkelkammern von Photoshop und unzähligen Bildbearbeitungen erahnt werden mag. Insbesondere »Facebook« markiert den Untergang des Gesichts, was zur Ironie der Gesichtsgeschichte wird, dass im Moment ihrer Globalisierung das Gesicht vollends zur Maske gerät. Denn der »Homo facebookienis« präsentiert »sich« mit Wunsch- und vor allem Leihgesichtern, digital überarbeiteten Porträts bis hin zu beliebigen Motiven, um damit zu demonstrieren, wie beliebig die Mitteilung (s)eines »Face« ist, wie ephemer die Frage ist, welches Gesicht man/frau gerade trägt. Facebook beschwört nur noch im Namen den Authentizitätsgestus, dessen lustvollste Form darin besteht, ihn zu hintertreiben. Werbefachleute erkennen erst an den »Klicks« und »Likes« die Identität der Käuferseele, während die mehr oder weniger idiosynkratischen Foto-Faces kaum etwas mitteilen. Das öffentliche Gesicht des Privaten wird zur saisonal bedingten Maske, die vom mehr oder weniger großen Narzissmus des Verwenders abhängig ist. Authentizität wird hier endgültig zu einer untauglichen Kategorie der Erfahrung des Selbst und des Gegenübers.  

 

»Was für eine Maske?»

Hans Beltings hochkarätige und solitäre Abhandlung demonstriert, dass es keine paradigmatische Verwendung des Porträts mehr geben kann, sondern der kontextualistische Einsatz von Porträts Teil politischer, ökonomischer und ästhetischer Strategien ist. So zahlreich sind die gegenwärtigen Bildverwendungen, dass eine Mediengesichterkunde erst in kategorialen Feindifferenzierungen Aufschluss darüber geben könnte. Es gibt weiterhin eine kritische Sozialfotografie, die ihre anklagenden Gesichter in Ästhetisierungsversuchen findet, eben diese Anklage in ihrer künstlerischen Maskierung zu hintertreiben. So ist andererseits die Werbefotografie, der künstlerischen oder dokumentarischen Fotografie nahverwandt, selbst ein hochdifferenziertes Magazin der Porträts, die nie allein auf ihren Werbezweck reduziert werden können. 

Roland Barthes stellte fest, dass letztlich jede Medialisierung die Widrigkeiten der Wirklichkeit hintergeht. Die Gesichtsmythen des Alltags wurden tausendfach decouvriert, ohne oft zu realisieren, dass kanonische Leseweisen seit je Täuschungen der Interpreten sind. Dekontextualisierung, Dekonstruktion oder Destruktion der Gesichter sind inzwischen nicht mehr Teil einer aufklärungsbedürftigen Ikonografie der Manipulation, sondern unser Wahrnehmungsstandard gegenüber den alltäglichen Kolonisierungsversuchen durch immer gleich-gültigere Bilder. Die moderne Bildherrschaft der digitalen Schwarmintelligenzen demonstriert die zahllosen Okkupationsweisen, in denen Gesichter aus ihren offiziellen Rahmen herausgeschnitten, neu gruppiert und arrangiert werden. 

Hans Beltings großartige Geschichte des Gesichts führt uns auch in den letzten ästhetischen Anstrengungen, das Gesicht als Ikone zu fixieren, zur Maske zurück. Hans Belting gelingt es vorzüglich, diese Unschärferelation zwischen Gesicht und Maske und - wie es auch dem Wesen/Unwesen der Maske entspricht - ihre Verschmelzung, ihr Ineinander kultur- und kunsthistorisch zu demonstrieren. Mit »Faces« liegt nun eine unhintergehbare Irritationsgeschichte des Porträts vor, die im Blick auf die digitalen Bildexplosionen und ihren Einfluss auf die Gesichter noch weiter geschrieben werden kann. Wir lesen die vorliegende Geschichte im fundamentalen Paradox, dass die Maske etwas verbirgt, was zuletzt sie selbst ist. Fraglos beschreibt dieses Paradox die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Gesicht, Porträt und Maske noch nicht vollständig. Aber jenes wider bessere Einsicht hartnäckig prätendierte Wahrheits- und Authentizitätsgefälle zwischen Gesicht und Maske lässt sich endgültig nicht länger aufrechterhalten. Die Maske erfüllt sich in einer Doppelfunktion, einerseits Verhüllung, Larve zu sein, um nicht erkannt zu werden, andererseits in typisierenden und individualisierenden Zügen mit nicht weniger Recht, das »Gesicht« selbst, die Wahrheit, auch in ihren philosophisch besiegelten Schwundstufen, zu repräsentieren.

Die Geschichte der europäischen Porträtkunst schreiben wir nun als eine Geschichte der Wahrheitssuche und ihrer Enttäuschungen, was wiederum zur höheren Wahrheit aufschließen kann, dass die Wahrheit sich nur in der Täuschung erfüllen kann - und sei es die, das eigene Selbst im Versuch, es zu begreifen, notwendig zu verfehlen. Insbesondere Hans Beltings Anmerkungen zu Rembrandt belegen paradigmatisch den Widerspruch zwischen den Geläufigkeiten tradierter Interpretationen und einem zweiten Blick. Rembrandt wurde insbesondere in seinen Selbstporträts als Meister der unbestechlichen Introspektion gefeiert. Der Ausdruck seiner Porträts lasse das Innenleben so vorurteilslos wie unprätentiös erstehen. Belting spricht dagegen von Inszenierung, nicht von Mimesis. Das Selbst lässt sich im Spiegel nicht finden, es gibt Rollen und die ihnen zugehörigen Masken. Aber der Künstler war schon weiter als seine posthumen Interpreten: »Rembrandt lacht, weil er inzwischen weiß, dass sein Selbst in seinem Bewusstsein verankert ist und nicht in seinem Aussehen.« So wichtig diese Auskunft ist, so stellt sich die Frage, was Rembrandt dann eigentlich malt. Geht es nur noch um die ewige Komik Don Quichottes, gegen die allfälligen Windmühlen zu reiten, das tragische Selbst zu suchen, wo doch nur ein Gesicht zu sehen ist? Im Grunde sind die Porträts Rembrandts eine Malerei, die weiß, dass sie ihren Gegenstand notwendig verfehlt und so gleichermaßen von einem konventionellen Publikum goutiert werden kann wie in der avancierten Betrachtung zur reinen Malerei wird.

Zum Sendeschluss: Loriot präsentierte uns den paradigmatischen Clip zum Maskengesicht. Der international bekannte Horrorschauspieler Vik Dorn erscheint in einer Talkshow mit einem furchtbar entstellten Gesicht. Nur die Rolle zählt! Also kann nach seiner Selbsteinschätzung der Unterscheid seiner Profession und der des Politikers nicht groß sein. Die Moderatorin bittet ihn in der Tradition der guten alten Medienaufklärung, wenigstens einmal für das Publikum diese abscheuliche Maske abzunehmen. Dahinter verberge sich doch... Der Schauspieler reagiert zutiefst verstört: »Was für eine Maske?» 

Goedart Palm

 

 

 

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