Klasse,
Masse, Rasse. Mit diesen drei brisanten Topoi ließe sich die politische
und gesellschaftliche Geografie dieses Jahrhunderts in ihren Höhen und
Tiefen skizzieren: gesellschaftliche Frontlinien, ethnische Abgründe,
unnachgiebiger Hass, aber auch späte Freundschaften, der ewige Kampf der
Vernunft gegen das Reptiliengehirn, transnationale Kollektive, die sich ältester
Ressentiments entschlagen wollen. Der Erdball hat viel Platz für Widersprüche,
fruchtbare, fruchtlose, befristete. Kein geringer Aufwand in dieser besten
aller möglichen, vielleicht auch schlechtesten aller wirklichen Welten
eine Äquilibristik zu finden, die bis zur nächsten Katastrophe währt,
um wieder mühselig aus den Trümmern neue Hoffnungen zu schöpfen. Da war
einer, der kurzerhand die gesamte Geschichte als Historie von Klassen,
ihren Kämpfen und Neuschöpfungen schilderte. Klassen seien der Motor der
Geschichte, bildeten den Gesellschaft gewordenen Widerspruch, der das
Wissen einer besseren Gemeinschaft birgt. Aber auch diese aus dem Kopf
geborene Theorie war nicht auf die Füße zu stellen. So wurden die
wissenschaftsgläubig ermittelten Klassen der Theorie abtrünnig,
versagten sich den spät verordneten Geschichtsbildern, wurden promisk und
die Umrisse verflüchtigten sich bis zur Unerkennbarkeit.
Oder ist
dieser Befund selbst vorschnell, Resultat einer neuen Perfidie des
Klassendenkens, eine Camouflage, die sich aus schlechten ideologischen Gründen
nicht eingesteht, dass Menschen in verschiedenen Booten sitzen, bis dass
sie die Sintflut holt? Und die im einen Boot helfen nicht jenen im
anderen, sondern sehen dem fremden Schicksal gelassen entgegen.
Narrenschiff, Nussschale, Luxusliner, Titanic: So vielfältig die
Gelegenheiten, erster, zweiter oder dritter Klasse unterzugehen, so
klassenlos lässt der Tod schließlich zusammenwachsen, was zu Lebzeiten
nicht zusammengehörte. Aber vor der Arbeit des großen Gleichmachers ist
Zeit genug, Differenzen, Distinktionen, feine und unfeine Unterschiede zu
hegen und zu pflegen. Zu Lebzeiten ist des Menschen Wille durch viele
Zugehörigkeiten, Abhängigkeiten, Widrigkeiten vom Himmelreich
klassenlosen Glücks geschieden. Klassen organisierten sich seit den frühen
Hochkulturen von oben nach unten und was Fürst-Pückler-Eis und der
Heilsgeschichte von den Guten und den Bösen frommte, sollte
stratifizierten Gesellschaften nicht schaden. In diesen Schichtungen
sedimentierte sich später säkular, was nicht länger dem göttlichen
Ordnungsgeist zugeschrieben werden konnte. Der Schöpfer hat auf die
klassenlose Paradiesgesellschaft zwar die im Schweiße ihres Angesichts
schuftende Vielklassengesellschaft initiiert. Aber eine Aufklärung, die
nicht nur Epoche sein will, dekretierte, dass die Rückkehr zum Paradies
die Fehlentscheidung des Schöpfers erst in der Theorie, und dann in der
Praxis revidieren sollte.
Minima
historia
Warum
entstehen Klassen? Ontologische, politische, soziologische Theorien
wetteifern um die Erklärung der Genese von Klassenbildungen. Mag man die
natürliche Ungleichheit der Menschen bemühen, sich darwinistisch rückversichert
glauben oder die “natürliche” Pervertierung des Menschengeschlechts
als fundamentalontologischen Befund dafür verantwortlich machen, dass
sich Gruppen abzirkeln und eine eigene Identität ausbilden. “Hunde
haben keinen Zutritt” heißt immer jenes bedrohliche Schild über den
Klubs derer, die die Definitionsgewalt darüber haben, wer ein Hund sei.
Klassen entspringen der Furcht vor einer Gleichheit, die sich der
Unterschiede vergewissert, um sie zum Herrschaftsanspruch zu legieren. So
ist Zugehörigkeit zu einer Klasse bereits das ”privilegium” der Träger,
nicht seine Eigenschaft. In dieser Logik regieren Zeichen, nicht die
Qualitäten der Ausgezeichneten. So entbindet ein gnädiges
Klassenschicksal die Träger von ständigen Irritationen ihres Selbstverständnisses,
während die Parias Gesellschaften als immerwährenden Ausschluss ihres Glückseligkeitsanspruchs
mit Gottes Hilfe oder ohne sie ertragen mussten. “Du hast keine Klasse,
aber du gehörst einer an” war das uneingestandene Leitmotiv
gesellschaftlicher Klassenbildung, die den Einzelnen von dem Druck
entlastete, selbst authentisch zu werden.
Die
“Durchmischung” gesellschaftlicher Klassen war Jahrhunderten zuvor
Teufelszeug, Kuppelei wider den heiligen Ordnungsgeist, der Einbruch der
sozialen Architektur, die sich ihre himmelwärts strebenden Türme nur auf
dem gesicherten Fundament der gottgegebenen Ungleichheit der Menschheit
leisten wollte. Nur so ließen sich Pyramiden bauen, Weltmeere durchpflügen
oder Schlachten schlagen. Es war damals noch kein Privileg, in der erste
Reihe zu stehen, wenn das Signal zum Angriff geblasen wurde.
Auch
jenseits von Indien, die europäisches Klassenbewusstsein mit rigider
Kastenmoral überboten, entstanden viele Klassenräume, die zu verlassen
ihren Exponenten nur zum Preis gesellschaftlicher Ächtung möglich war.
Allein Helden mochten sich über Klassen erheben, weil sie selbst genug
Klasse hatten, ohne auf eine angewiesen zu sein. Immerhin sanktionierten
kluge Herrscher den klassenlosen Übermut von Helden nicht selten dadurch,
sie in den Adelsstand zu heben, zur Klasse der Herrschenden aufsteigen zu
lassen, weil Klasse ohne Klassenzugehörigkeit ein gesellschaftlicher Sündenfall
geblieben wäre. Nicht nur im romantischen Märchen wird der Durchlauf der
Feuerproben zur Voraussetzung der Inauguration des Helden. Prinzessinnen
warten auf den Besten, der sich gegenüber den Herausforderungen der Welt
erfolgreich erweist, um durch das allfällige Glück am heimischen Herd,
in der heimischen Herde belohnt zu werden. So kam die Welt nach
erfolgreichem Heldentum wieder ins Lot der Herrschaft, und frühe
Funktionseliten und blaues Blut gingen genetisch wertvolle Verbindungen
ein.
Ähnlich
war es Liebenden beschieden, den Aufprall der Klassen in ihrer Liasion
abzufedern, weil die Liebe gesellschaftliche Definitionen missachten darf,
um sich so ihrer Exklusivität zu versichern. Aber nicht selten zahlten
auch die Liebenden den Preis der Grenzverletzung, wenn die Liebe lieblosen
Gesellschaften als mesalliance wider das heilige Gesetz der Klassen galt.
Abelaerd brach man das Gemächt, weil Heloise die falsche Klassenwahl war.
So sollte man seinesgleichen besteigen, weil nicht nur der Inzest gleichen
Blutes verboten war, sondern auch der Inzest der Klassen. Nun war die
vorgeblich sexuelle Zwangsmoral aber nie so sakrosankt, dass sie nicht den
fröhlichen Parcours durch fremdes Terrain eröffnet hätte. Denn Schönheit
oder Fertilität waren viel zu kostbar, als dass sie in ihren sozialen
Grenzen belassen worden wären. Der Transit zwischen den Klassen eröffnete
sich somit solchen Qualitäten, die in abgezirkelten Klassen nicht mehr
ausreichend generiert werden konnten. Zwar starben Dynastien aus, gingen
Herrschaftshäuser ohne Kind und Kegel unter, aber – je nach genetischer
Ausgangssituation – wurden ”Klasseweiber” gesucht, die blaublütige
Linien sicherten.
Wurde
blaues Blut dünnflüssig, taten Mischungen der Klassen Not, um die Klasse
zu sichern. So verband sich etwa Karl V. der Blombergerin, um den Anführer
der Heiligen Liga und Sieger von Lepanto zu zeugen. Niemand, der Juan d´Austria
deshalb Rotzbankert geschimpft hätte, weil er zur gemischten Klasse gehörte.
Philipp II. half dieses frische Halbblut seines Halbbruders zwar wenig,
sein Weltreich zusammen zu halten und seine eigene Fortpflanzungspolitik
war von geringstem Erfolg geprägt. Mag hier das Prinzip gefunden werden,
dass nur Mischungen der Klassen langfristig Herrschaften sichern und die
Biologie soziale Abgrenzungen und Zirkel immer wieder provoziert. Aber
zumindest war es der jeweiligen Herrschaft nicht fremd, sich mit dem
“Adel des Geistes” aus mehr als Life-Style-orientierten Gründen zu
verbünden. Man versicherte sich der eigenen Größe über Geistesgrößen,
die feudale Salons über den Abend brachten.
Stände und
Zünfte, Drei-Klassen-Wahlrecht und Korpsgeist, Insignien und
Kragenspiegel markierten über Jahrhunderte undurchdringliche Klassenräume,
entsprachen einer unversöhnlichen Logik kollektiver Identität,
die sich nur in der Abgrenzung vom Anderen erkannte. Allein Einzelne,
skurrile Gestalten wie etwa Harry Domela, der selbst ernannte
Hohenzollernprinz, oder der Hauptmann von Köpenick durchbrachen für eine
kurze Zeit die ungnädigen Zuweisungsentscheidungen ihrer Geburt, um die
Identitätsschwächen der Klassen
zu belegen. Sie waren keine Klassenkämpfer, die das Daseinsrecht
gesellschaftlicher Gruppierungen fundamental in Frage stellen. Nein, sie
mischten sich für eine kurze Zeit des Höhenrauschs in die fremden
Klassen derer, die sich an Namen, Titeln, Kragenspiegeln, Schulterklappen
und Umgangsformen erkennen. Als Hochstapelei galt den Düpierten, was
letztlich nur bewies, wie wenig Persönlichkeit und wahre Klasse die
Klassenverhältnisse im Innersten zusammenhält. Solche Provokationen
waren saturnalische Zwischenspiele, weniger aus der Lust als auch der Not
geboren, dem Klassendruck zu
entkommen, um ihn letztlich zu konfirmieren. Harry Domela wollte nach
seinem Gastspiel in Adelskreisen in die klassenlose Fremdenlegion, die
nicht nach Herkunft und Geblüt ihrer Kämpen fragt, ausbüchsen, aber die
Gesellschaft lachte über ihn, ohne dabei einen Moment zu vergessen, mit
ihm abzurechnen. Domela war praktischer Soziologe, der endgültig den
Glauben vernichtet hatte, die Saxo-Borussen und andere schlagende
Verbindungen wären etwas anderes als der juvenile Abschaum einer höheren
Klasse. Selbst ein Hohenzollernprinz ist nicht mehr als eine inszenierte
Persönlichkeit, die nur nach einem distinguierten Schauspieler ruft. Im
Ein- und Ausschlusssystem dieses Codes konnte es also Verletzungen geben,
aber die Daseinsberechtigung der Klasse und ihrer Angehörigen wurden in
den Realsatiren der “trickster”, die über die Gräben der Klassen
hupften, nicht ernstlich in Frage gestellt.
Die
historisch nachhaltigste Provokation der Klassen, ihrer symbolischen und
ökonomischen Definitionen, ging aber von Sozialromantikern, Revolutionären,
Klassenkämpfern aus, die hölzerne Barrikaden errichteten, um soziale
niederzureißen, weil nur so dem Zeitgeist auf die Sprünge wider das
Unrecht zu helfen wäre. Die frühen Glückssucher jenseits der
Klassenordnungen waren glücklose Konquistadoren einer utopischen
Menschlichkeit. Robert Owens
etwas fasste in seiner Glückskolonie ”New Harmony” die Klassenmüden
zusammen, um der Harmonie aller jenseits vormaliger
Unterschiede eine Chance zu geben. Es funktionierte nicht, weil
sich der Virus der Klassen von Geburt an in diese Utopie des guten
Glaubens einnistete. Den frühen Sozialharmonikern folgten die Revolutionäre
auf dem Fuß und danach erschienen ihre Sequester – wie etwa Napoleon, der in dem nicht verlorenem Wissen
über den klassenlosen Pöbel seine Maximen fand: “Die ersten 500 muss
man niederkartätschen, der Rest läuft von selbst weg.” Mag sein, aber
sie kamen dann doch wieder und stärker denn je, sie vertrieben Zaren,
Kaiser, Könige und kartätschten nun selbst die Herrschaft auf Menschenmaß
und - hass zusammen. Die klassenlose Klasse der Revolutionäre wirbelte
die Klassen durcheinander, jeder zunächst ein citoyen – und wehe wenn
nicht – später Genosse, Arbeiter oder Bauer, bis jene klassenlose
Urgesellschaft im säkularen Paradies wieder erstehen sollte, die als
Ausgang und Ziel der Geschichte den klassenlosen Zustand suchte. So
versteckte sich der Adel unter den Bürgerhüten, soweit seine Häupter
nicht bereits in den Flechtkorb unter der Guillotine gefallen waren und
wartete in der Uniform der zwangsgemischten Klasse auf seine
Wiederauferstehung, die so sicher sein müsse, wie Klassen Gottes
ureigenstes Gesetz sein sollten. Unter dem breiten Mantel der Gleichheit
und Brüderlichkeit zwangsgemischte Klassen, jederzeit bereit, sich neu zu
bilden. Aber die Restauration der alten Klassenherrlichkeit blieb Episode.
Allein der
letztlich Gespenst gebliebene Geist des Kommunismus materialisierte in der
Theorie, was jede Praxis endgültig bestimmen sollte.
Der Traum der klassenlosen Gesellschaft, nicht weit von den paradiesischen
Erinnerungen, den Urchristengemeinden und sozialromantischen Fantasien
entfernt, verlangte nach Wissenschaft, weil allein diese als Garant einer
Wirklichkeitsbeziehung galt. Auch wenn es angeblich darauf ankommt, die
Welt zu verändern, muss man sie zuvor verstehen. Und die radikale
Wissenschaft von der klassenlosen Nachgeschichte hat sich redlich gemüht,
die Veränderungen hin zur klassenlosen Gesellschaft als das letzte Wort
der Geschichte zu geben. Aber was vermag Wissenschaft, wenn die launige
Geschichte so wider jede Menschenvernunft keine Einsicht hat? Geschichte
spottet wie immer den Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünften besserer
Gesellschaften. Der ungestüme Sohn Marx wurde von der Erkenntnis seines
Vaters Hegel wieder eingeholt, dass die bestehende Gesellschaft immer die
beste ist, weil anders sie nicht vernünftig wäre. Auch wenn der preußische
Staatsphilosoph mit der Fantasie des zur Freiheit galoppierenden
Weltgeistes den größten Anlass gegeben hatte, über Wohl und Wehe künftiger
Gesellschaften geschichtsmorphologisch zu spekulieren, blieb doch die
immer währende crux, dass absolute Freiheit nicht Befreiung des Menschen
meinen könnte. So wähnten sich die working-class-heroes zwar zunächst
in den Sätteln der apokalpytischen Reiter zu reiten, fegten unter der
Schirmherrschaft der Internationale über die Bastionen der Unterdrücker
hinweg, radierten alle Zeichen der Herrschaft aus. Schon schien der Mensch
in die wahre Geschichte brüderlichen Daseins einzutreten, das die
Sansculotten großmundig postuliert hatten. Doch der Klassengeist war
heimlich mitgeritten, nistete sich in den befreiten Gesellschaften ein.
Auch die sozialistischen Gesellschaften retteten jenes verfemte
Klassenbewusstsein über die niedergerissenen Barrikaden ins neue
Diesseits. Im Zeichen der Gleichheit wurden die Genossen neu
klassifiziert. Jeder Mensch sei ein Proletarier, aber diese Zuschreibung löschte
nicht das hartnäckige Erbe, doch noch gleicher zu werden, als es die
meisten je sein würden.
Dem
Klassenkampf, der zudem international sein Werk vollenden wollte, wurde
der Kampf angesagt, aber in der Theorie war er nicht zu schlagen, sondern
er krepierte am Ungeist der Planung des Nichtplanbaren. In der
selbstgewissen Dialektik einer Geschichte, die den Menschen zu sich kommen
lässt, triumphierte eine ungleich vitalere Dialektik, die den Menschen
wieder hinausstößt in die unerträgliche Leichtigkeit des Seins - ohne
archimedische Haltegriffe und andere Daseinsgewissheiten. Immerhin:
Niemand reklamiert mehr, dass Klassengesellschaften der Natur des
Menschengeschlechts entsprüngen, dass dem Menschen hier das zuteil wird,
was gottgewollt sei.
Die
Statthalter des Klassenkampfs sind, mit wenigen, müde gewordenen
Ausnahmen, nicht mehr unter uns. Ihre Bastionen weniger haltbar als die
Fortifikationen des Adels, die heute unter Denkmalschutz stehen:
Krieg dem asbestmorschen ”Palast der Republik”, Friede den Hütten
von Marzahn, so hat sich das revolutionäre Wissen des ”Hessischen
Landboten” überlebt und die kleinbürgerliche Revolutionsverwaltung
sich selbst gerichtet. Überlebende Klassenkämpfer wie ”El maximo lider”
Castro treffen sich mit dem "Pontifex maximus" heute zum fröhlichen
Stelldichein vormals unversöhnlicher Klassenstandpunkte. Zwar müsste der
Diskurs weiter unversöhnlich sein, wenn er denn noch geführt würde,
aber in der Gemengelage der Interessen muss auch die kubanische
Weltrevolution warten, wenn sie sich mit dem internationalen Ansehen,
sprich: der nackten Not zu überleben, nicht verträgt. Schlechte Zeiten für
Klassenkämpfer.
Nachdem der
vormals ideologisch so gefestigte Klassenkampf mit dem Untergang des
irreal existierenden Sozialismus als ausgefochten gilt, etablieren sich
nun in den parzellierten Nationalstaaten des einstigen Vielvölkerimperiums
der Sowjetunion postsozialistische Klassen. Der Kampf dieser Klassen gilt
dem Geld, dessen Heilsfunktionen den Solidargeist kommunistischer Brüder-
und Schwesternschaften ersetzt haben. Dass Geld die Welt regiere, ist
keineswegs neues Wissen, doch schien dieser Gemeinplatz der
kapitalistischen Welt und ihrer verruchten Geldmachtmoral reserviert zu
sein. In den Planwirtschaften, die vorkapitalistischen
Tauschgesellschaften angenähert waren, war das Geld lediglich eine müde
Verrechnungseinheit, die den Tauschakt einer Mangelwirtschaft kaschierte.
Inzwischen ist das Ostgeld mit der guten Fortpflanzungsmoral ungehemmten
Wirtschaftens aufgeladen, das neue, schnelle Geld des Ostens atmet
kapitalistische Sprengkraft. Die neuen Klassen osteuropäischen
Magnatentums scheinen mit dem vormaligen Fronsystem oktroyierter Freiheit
nicht zuletzt durch ihren luxurierenden, spätrömischen Lebensstil
abzurechnen, der die Nähe mafioser Welterschließung als Sahnehäubchen
auf dem Kaffee goutiert. Während der symbolisch sedierte Kapitalismus
Klassendistinktionen im “casual look” jugendlicher entrepreneurs
verwischt, will die neue S-Klasse alerter Jungunternehmer Osteuropas noch
den Prestigemehrwert solcher West-Ikonen wie Rolex und Lacoste abschöpfen.
Nach Jahrzehnten rationierter Verwaltung des Mangels herrscht nun der
Glaube dieser Klasse, dass fast alles Gold ist, was glänzt. Es ist eine
weitere Ironie der Geschichte, dass die Differenzierungen von Klassen nach
dem Fall der Nomenklatura sehr viel schärfer ins Fleisch der Gesellschaft
schneiden als im Westen.
Intermezzo:
Küchenweisheiten
Gemischte
Klasse? Dass man Schokolade mit Vanille zum gemischten Eis veredle, stieß
nie auf eine Apartheidspolitik frugaler Ausgrenzung gegenüber den
Versuchungen des Gaumens. “Fruit of the season” ist ein gesicherter
Standpunkt kulinarischer Klassentranszendenz, zumal der Norden, jenseits
von Rang und Klasse, sich diese Früchte des Südens ohne ethnische
Vorurteile zuführte. Auch heimische Gewürze und ihre exotischen Überbietungen
treffen sich in der klassenlosen Herrschaft des Kochtopfs zum Amalgam des
Geschmacks und der Geschmäcker. Vorbei die Zeiten, als nur reiche
Pfeffersäcke ihre Speisen bis zur Unerträglichkeit würzen konnten, um
ihren Reichtum nicht nur an schlechtem Geschmack, sondern auch ihrer
Klasse den Geschmack des Reichtums vollmundig zu beweisen. Küchen sind
zum ehestens die Erfüllung multikultureller Klassenlosigkeit, in der sich
italienische Pasta, britische Hotdogs, französisches Entrecote oder
australischer Weißwein im Geiste kulinarischer Einverleibung treffen und
über ausladende Speisenkarten inzwischen alles fleucht und kreucht, was
Gott wohlgefällig al dente und mit gleicher Liebe schuf. Was der Gourmet
nicht kennt, das isst er. Klassenherrschaft? Selbst Bocuse riskierte vor
laufenden Kameras den Biss in den Burger, ohne den Big Mac als gröbste
Versuchung, seit es Junk-food gibt, zu verschmähen. Nicht, dass die
Gastronomie nicht gerade die feinen und die feinsten Unterschiede kennte,
aber wo denn, wenn nicht hier, war schon je die Lust an den Mixturen das
Rezept des Gelingens. Aber Küchenweisheiten sind nicht der letzte Schluss
klassenloser Vereinigung, sondern lediglich der Vorschein einer Weltklasse
konsumierender Aneignung. ”Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral”
– mag sein, aber es gibt auch eine moralische Gefräßigkeit, die sich
zuletzt selbst verzehrt, um zu überleben.
Postideologie
Postideologie
nennen wir den Standort der Standortlosigkeit, den die einnehmen, die ihre
gesellschaftliche Zugehörigkeit nicht mehr über Herkunft, Blut oder
Theorie definieren. Im Westen
fielen die Fronten zwischen Adel und Bürgern, Bürgern und Arbeitern
selbst gesellschaftlichen Veränderungen zum Opfer. Menschen reflektieren
Funktionen und bewältigen ohne die alten Klassen das, was der
Fortschritt, der ein flüchtiger Standpunkt wurde, Gesellschaften
abverlangt.
Das
Argumentationskapital gesellschaftlicher Lager vermischt sich in immer
neuen Positionen, die nicht mehr auf Klassenstandpunkte rückprojiziert
werden konnten. Mit welchem Elan suchte man sich noch in den 70er-Jahren
seine Meinung zu erkämpfen, die nur noch sozialrevolutionäre Nostalgie
zur Überzeugung brachte. Der Glaube an den Diskurs, der zur Überzeugung
des politschen Gegners führen könnte, war noch jung. Hohl wurden die
Meinungen, weil die Heilsversprechen von allen Kontrahenden zu lange
gegeben wurden, ohne ihre Einlösung noch zu Lebzeiten wahrscheinlich
werden zu lassen. Hältst Du es mit dem Regenwald, ist Dir das Ozonloch
Anliegen, oder hast Du Dich von gesellschaftlicher Verantwortung
entpflichtet, weil Du nur noch indivduell überleben willst. Die
Perspektive der Demokraten schrumpfte allenthalben auf nackteste Ökonomie
und eine apathische Nachgeschichte zusammen. Die Weltanliegen müssen
warten. Übrig blieb die vor allem in Parteiprogrammen grassierende
Beliebigkeitsmelioristik, die ungesicherte Direktive, alles müsse
irgendwie besser werden, obzwar die Deckungsmasse dieser
Verbesserungslehren längst abhanden gekommen ist. Wenn weder der Geist
noch die Meinung länger tragen, brechen schlechte, schlechteste Zeiten für
Klassen an. Es wächst zusammen, was nicht zusammengehört. Es mischt
sich, was nach dem Periodensystem der politischen Elemente keine Bindungen
eingehen dürfte. So verbünden sich Konservative und Progressive im
Zeichen einer fragilen Ökologie, so wie sich entzweien. So werden
Friedenskämpfer zu Humanbellizisten im Gefolge der Weltpolizei.
Die Verhältnisse
werden freilich nur dem unübersichtlich, der seine Übersichtlichkeit
einer antiquierten Theorie der geschiedenen Klassen verdankt. Übersichtlichkeit
ist das Postulat von Theorie. Schlecht für die Theorie, wenn sich die
Praxis, die ja immer mehr war als nur der Stoff der Theoretiker, dieser
Forderungen entschlägt. Massengesellschaften ohne Bindungsmasse fragen
nicht länger nach Klassen, fragen nicht nach der Inhaberschaft
historischer Wahrheit, ja spotten über die Geschichte, die sich über
sich selbst hinausbewegt, wie es nicht einmal der kühnste Hegelianismus
gewagt hätte, dem störrischen Weltgeist vorzuschreiben. Wird Geschichte obsolet, werden es ihre alten Klassen auch,
denn ohne Provenienz wird keiner seine Klasse gegenüber anderen Klassen
beweisen. Heute existieren Adel, schlagende Verbindungen etc. als
Reservate einer alten Welt, werden in den Boulevardpresse von denen
hedonistisch goutiert, die hier das Glücksversprechen einer besseren
Klasse wähnen, um sich daran zu wärmen, mitzuleiden, sich in der fernen
Klasse selbst zu spüren. Prinzessin
Carolines Lieben und Leiden wird zum Gegenstand medialer Fernempathie.
Bunte Blätter schaffen illusionäre Transiträume zwischen Zaunkönigen
und echten Titelträgern.
Der
Niedergang der Zeichen
Die
Mentalität der symbolisch abgesicherten Differenz hielt spätmodernen
Lebenseinrichtungen nicht stand. Spätmoderne Gesellschaften verloren mit
den Begriffen auch die Zeichen gesicherter Klassifikation. Zwar werden
hartnäckig Warenzeichen zu narzisstischen Auszeichnungen ihrer Träger
erkoren. Aber hier gehts um die Identifikation von Persönlichkeiten, die
ihre Einzigartigkeit im kollektiven Zugriff auf die Inkunablen des
Lifestyle so wenig unter Beweis stellen, wie sie es hartnäckig behaupten.
Die neue Mercedes-E-Klasse verkündet folgerichtig: Entwicklung der Persönlichkeit.
Die Persönlichkeit des Autos ist die des Automobilisten, der weniger
automobil als Teil des Produkts wird.
Hier feiert sich die Corporate Identity von Produzenten und
Konsumenten im Zeichen der Ware. Aber
wenn auch die Könige des Verbrechens Staatskarrossen fahren dürfen, dann
mischen sich die Klassen von Neu- und Altreichen. Identität wird zur
Kaufentscheidung und niemand nimmt die neuen Persönlichkeiten für mehr
als das “branding”, das sie sich leisten können. Eine Klasse für
sich will jeder sein, mithin ist es keine Klasse mehr, sondern das Eingeständnis
einer klassenlosen Klasse Einzelner. Der “Einzige und sein Eigentum”
war nie mehr als ein Anarchie gewordener Kleinbürgertraum, der sich
heutzutage narzisstisch-leere Symbole aneignet, um nicht vor Gott und
Gesellschaft mit leeren Händen dazustehen. “Hier stehe ich und kann
auch anders” mag der narzisstische Grundsatz derer lauten, die den
Lifestyle als Identitätsmode behandeln. Die Garderobe wird zwar nicht am
Eingang abgegeben, aber verkümmert zum
Restposten klassenloser Persönlichkeiten im Ausverkauf der Werte.
Vorbei die Zeiten, wo sich Bürgerfrauen Strafe zuzogen, weil sie sich die
modischen Privilegien des Adels auf den Leib schneidern ließen.
Lifestyle,
Kommunikations- und Bequemlichkeitstechnologien avancieren in immer
rasanteren Tempo zur Mischkultur fröhlicher Weltaneignung – jenseits
von alten Klassenidentitäten, jenseits der Distinktion eines
Klassenbewusstseins, das schon je wusste, wo die eigene Welt endet und der
Horizont der anderen beginnt. So wie World-Music, Love-Parade und Rap den
Mix als Form der Formlosigkeit inaugurierten, schütteln sich
Gesellschaften wie Schneegestöber, mischen die alten Distinktionszeichen
in den Erlebnismilieus. Biedermeier liiert sich mit Ikea etwa in den
Wohnungen der Spät-68er zum kosmopolitischen Weltgeist, der seine
Muffigkeit hinter der vorgeblichen Freiheit des “anything goes”
versteckt. Nichts spießiger als nicht spießig sein zu wollen, wurde zum
schizophrenen Leitmotiv der neuen Identitätsmixturen. Patch-work, nicht
nur in der Welt der Kategorien, sondern als Konstruktionsprinzip der
Unzeitgenossen. Die neuen Selbstkonstruktionen haben alle dieselbe
Konfektionsgröße, wenn sie mit der Elle des "zoon politikon" vermessen
werden. War es früher ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben, so ist es
heute ehrenvoll, ohne diese Tugend zu leben und doch Verfassungspatriot zu
sein.
Glaubte man
zuvor, sich noch in Basisdifferenzen über die gesellschaftlichen Verhältnisse
streiten zu können. Wohlfahrtsstaat versus Liberalismus, Sozialstaat
versus Rechtsstaat etc. Die Überformung solcher Standpunkte zu einem
Konzept der gerechten Demokratie beschreiben nicht mehr Frontlinien, die
zu Klassenstandpunkten geschmiedet werden könnten. Mit der Codierung
“links/rechts” brachen auch die Wege der Demokratie in Klassen der
mehr billig oder mehr gerecht Denkenden ab. Mehr billig als gerecht schlängeln
sich heute Demokraten auf ihrem Weg in die Konkursgesellschaft, in der es
Klassen von Gläubigern und Schuldern geben mag.
In der
Buntscheckigkeit des Sozialen ziehen sich die Klassengrenzen zwar weniger
markant als zuvor durch den “Gesellschaftskörper”, aber
Klassifikationssysteme versagen auch gegenüber “gemischten Klassen”
nicht. Neue Klassenregimenter
gründen auf Geld, Wissen und Funktionen. Die
Distinktionszeichen dieser Klassen verlangen näheres Hinsehen,
wenn sie denn überhaupt noch vorhanden sind. ”Nenn mir deinen Schneider
und ich sag dir, wer du bist” reicht nicht mehr aus, um die Milliardäre
von Silicon Valley zu erkennen. Die feinen Unterschiede werden umso stärker
vernachlässigt, je weniger Zugehörigkeiten zu konsistenten Klassen
reklamiert werden können. Distinktion
ist selbst eine distinktive Kategorie, so könnte man mit autologischer Präzision
formulieren, und ihre letzte Distinktion ist ihre Auflösung.
Formen
aufdringlicher Abgrenzung verfallen gesellschaftlicher Ächtung, sind ein
Atavismus der dümmsten Art. Der
diskrete Scharm der Bourgeoisie, die sich längst nicht mehr so nennt und
auch von Soziologen mit Systemkategorien entstigmatisiert wurde, versteckt
sich hinter dem aufgeklärten Zynismus der Unerkennbarkeit. Der
gesellschaftliche Sündenfall des alten Klassengeists ist jetzt törichten
Verlautbarungen vorbehalten, die unsichtbare Konturen mit breitem
Wachsstift nachziehen. So löste Karl Lagerfelds Protest im Angesicht
mitfliegender Behinderte in der Businessclass Proteste gegen die
Blasiertheit des unnahbaren Lifestyle-Dogmatikers aus. Pret-a-porter ja,
aber nicht für unschöne Menschen, die in den Augen der Haut couture
keine Bedeutung haben. Die Businessclass derer von Lagerfeld und visa card
will unter sich bleiben, doch sie ist so wenig Klasse so wenig
Kreditkarten eine geistige Macht begründen, die nach Ortega y Gasset das
Merkmal jeder Herrschaft begründen. Ortega y Gassets Herrschaftsbegriff
mag seit je eine Schönfärbung von Herrschaft gewesen sein, die auf
Geburt und Herkunft insistierte. Doch hätten die Proteste gegen den
Feingeistschneider nicht der Gesellschaft gelten müssen, die solche
“Unfälle” sozialer Begegnung der dritten Art in ihrem alltäglichen
Vollzug regelmäßig vermeidet? Arenal ist der Klasse der Kampftrinker
vorbehalten, während Claudia Schiffer auf derselben Insel zur
leisure-class gehört, die da Hof hält, wo nur noch die paparazzi
hingelangen.
Clash
of classes
Der
“clash of cultures” findet entgegen Samuel P. Huntington nicht statt,
wenn Kulturen über die Klassen, Massen und Maßen hinaus so mobil werden
wollen, dass auch die Starrheit ihrer Ideologien nicht vor den
Errungenschaften fremder Zivilisation Halt macht. Ölscheichs und Yuppies
verfügen über die nämlichen Kommunikationstechnologien, weil sich die
Geister und Klassen selten scheiden, wenn es um das greifbarste Glücksversprechen
geht: Die Verfügbarkeit der Welt aus dem Geist allgegenwärtiger
Technologie. Keine Zeit für Klassendistinktion, wenn der Ruf des Geldes
ertönt. Produkte transzendieren Klassengrenzen, sind so promiskuitiv, wie
es die Lebenswelt ihrer Konsumenten erfordert. In der Abstraktion von
Massenprodukten, die für namenlose Käufer gefertigt werden, verbirgt
sich das Versprechen demokratischen Gebrauchs, auch wenn ökonomische
Zugangsschranken dieses Versprechen längst nicht jedem erfüllen. Die
hedonistische Klasse derer, die konsumieren wollen, kennt keine
Klassenressentiments außer jenen, die sich gegen die Verweigerer fröhlichen
Konsums richten. So kommt es nicht von ungefähr, dass der globale
Kapitalismus Ausschlussfunktionen zwar kennt, sie aber seinem klassenlosen
Zugriff auf die Seelen aller Konsumenten widerstreben. Coca-Cola ruft
immer wieder: Konsumenten aller Länder vereinigt euch. Zwar ist das keine
Vereinigung zum kollektiven Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit,
sondern die Vereinigung zum individuellen Genuss, der alle treffen soll.
Aber die
Engführung von Demokratie, Gleichheit und kollektiven Konsumbedingungen
hat mehr zur Auflösung von Klassen beigetragen, als es Aufklärungen über
die wahre soziale Natur des Menschengeschlechts,
Gesellschaftsvertragsfantasien oder revolutionäre Rundumschläge gegen
Klassengesellschaften je vermochten. Schon immer musste der schwache Geist
und das willige Fleisch ihr Miteinander finden. Geschieden wurden sie von
Denkern, die ihre Selbstzweifel in dieser körpereigenen Klassenhierarchie
verpackten. Zwar hat in der Emanzipation des klassenübergreifenden
Genusses auch spät Askese sich als rechte Lebensweise anempfohlen, geht
Westlern die Puste aus, so versichern sie sich des einfachen Lebens,
suchen die Diätetik einer besseren Moral. Der Buddha wurde zu einem
Doppelagenten des einfachen Lebens saturierter Westmenschen. Aber das
bleiben Arabesken einer weltflüchtigen Moral, kurzlebige Gegenwelten
einer medialen Reizkultur, die den Glauben an die Verfügbarkeit der Welt
erst recht bestätigen. So werden die heiligen Räume, die
nichtpassierbaren Soziotope, die Schutzzonen des Adels von Fleisch und
Geist immer stärker bedrängt, ihren vermeintlichen Mehrwert allen zu
geben. So erobern sich Menschen, die früher der Kanaille zugeschlagen
wurden, Räume, die zuvor keine Zugänge besaßen. Waren etwa die
Institutionen bildungsbürgerlicher Kultur, Opern, Museen, Theater,
exklusive Orte der Kulturverhinderung für viele, sind heute ihre
Statthalter zum ehesten darum besorgt, ihre Schwellenangst vor der
Schwellenangst derer da draußen abzubauen. Das funktioniert zwar nur
bedingt, weil Entprivilegierung angestaubter Kultur nicht reicht, eine
Attraktion zu sein, aber Eintritt mag sich jeder verschaffen, so weit
Kreditkarte und Subventionen reichen.
Klassenlose
Transitivität muss in einer Kultur, die Kommunikation zum Fetisch machte,
selbstverständlich werden. So hat auch der imperiale Tourismus seine
Geschichte von den frühen Kavaliersreisen, die nur wenigen vorbehalten
waren, bis hin zum wohlfeilen Exotismus für jedermann zurückgelegt und
keine heilige Stätte dieser Welt bleibt unerstiegen, wenn Service und
Logis stimmen. “Kolonialismus light” schleift zwar die Unterschiede
der Welterschließer nicht völlig ab, macht aber klar, dass der Geist der
Distinktion, wenn es denn je einer war, sich nicht länger auf Herkunft
und Zugehörigkeit bescheiden kann. Nun ist die Welt nicht verfügbarer,
als es Klassengrenzen verfügen, und ein Bauernhaus in der Toscana
garantiert zuletzt die Vereinigung von Bürgern und Bauern unter der Sonne
arkadischer Landschaften.
Bildungsbarrieren
als Welterschließungsgrenzen werden auch in der Selbstanmaßung egalitärer
Demokratien so gepflegt, wie es entkräftete Sozialhaushalte
vorzuschreiben scheinen. Amerika oder Großbritannien sind auf dem besten
Wege, die allgemeinen Errungenschaften der Volksbildung zu Gunsten
privilegierter Privaterziehungen aufzugeben. War Bildung ehedem die
Speerspitze gegen den Feudalismus, der sich dem Druck der Aufklärung
nicht erfolgreich widersetzen konnte, wird nun Bildung zum Privileg von
Gesellschaften, deren verfassungsgemäßes Selbstverständnis zwar keine
Privilegien kennen darf, sie aber gleichwohl ausbildet.
Aber auch
dieses Privileg ist selbst gefährdet, in immer rasanteren Halbwertszeiten
zu verfallen. Auch hier ist unwahrscheinlich, dass Gesellschaften aus
Parias und Privilegierten im Zeichen des Wissens sich differenzieren. Was
heute gilt, gilt morgen nicht mehr, so sehr auch die Illusion lebenslanger
Weiterbildung im Konflikt mit den ontogenetischen Grenzen des Wachstums
hartnäckig gepflegt wird. Das Wissen als Herrschaftskapital schreibt
seine eigene Dialektik in Informationsgesellschaften, die immer mehr
wissen, und ihren Protagonisten, die immer weniger wissen. Aristoteles,
Humboldt, Leibniz, Goethe repräsentieren keine tauglichen Selbstentwürfe
des Individuums mehr, das sich an die Spitze des kollektiven Wissens
seiner Zeit setzt, um an der Front der Geschichte den Weltgeist
aufzusatteln. Welcher Poet wagte der Quantenmechanik zu widersprechen, maßte
sich Goethes Omnipotenz an, auch noch über die Farbenlehre zu urteilen,
wenn die Poesie der Physik nur noch über elf und mehr Dimensionen Zutritt
in den Kreis der Auguren verschafft?
Beklagte
man zuvor die soziale Atomisierung von Gesellschaften, so wäre heute mit
mehr Recht von der kognitiven Zertrümmerung des Einzelnen zu reden, während
das kollektive Wissen sich in immer komplexeren Erkenntnissen aufgipfelt.
Danach sind auch die politischen Programme, die alte Bildungsideale von
einer Bildungsklassengesellschaft zurückfordern, selbst fragil gegenüber
einem Wissen, das dem Einzelnen nicht mehr verfügbar ist. Die kognitive
Aufrüstung der Zukunftsgesellschaft mag am Menschen vorbeigehen, während
die Verfügung über Wissen sich feudalen Konditionen wieder annähert.
Mag man der Technologie auch nicht den Geist der Kultur zurechnen, sie zum
selbstlosen Instrument erklären, so ist ihr der Mensch doch so verfallen,
wie es drastisch der Siegeszug der Computer auch in den Welten zeigt, die
sich dem reinen Geist verschreiben. Der Personalcomputer, der weniger persönlich
als hochabstrakt ist, kennt nur zwei Klassen von Zeichen, deren Diskretion
das Geheimnis seines Gelingens ist: I/0. Und diese Klassenherrschaft
seiner Zeichen versteckt ihr “arcanum” hinter den Funktionen, die
jedermann beherrschen, aber längst nicht jeder verstehen kann. So wird
auch nicht die Technologie freigesprochen, in ihrer praktischen
Konvertierung der Naturgesetze ohne soziale Gesetze zu existieren. Auch
hier sind die Klassen der Auguren vom Fußvolk der “user” getrennt.
Der Häme Besitzender gegen die klassenlose Gesellschaft korrespondiert
der Sozialneid. Aber Sozialneid ist eine Kategorie, die auf den Neid der
Besitzenden verweist, ihr Terrain bereits erobert zu werden, während der
Finger in die andere Richtung weist.
Epilog
Den
klassenlosen Klassengesellschaften kam der Gedanke abhanden, dass Kultur
dem Konflikt liiert ist, ja mehr Kultur ist Konflikt. Hegel hätte vom
Widerspruch im Begriff gesprochen, der zur Bewegung wird. Revolutionäre
Bewegungen diskreditierten sich in ihrer Etablierung. Mexiko wird von der
Partei der immer währenden Revolution angeleitet, aber diese Revolution
ist ein immer währender Widerspruch gegen den sozialen Widerspruch, den
Revolutionäre verkörpern wollen. Revolutionen brauchen Klassen so wie
Kinder Märchen. Schlechte Zeiten für Revolutionäre in klassenlosen
Klassengesellschaften. Aber weiter gehend wurden nicht nur Klassen als
diskrete Größen einer indiskreten Herrschaft obsolet. Gesellschaft
selbst wurde zum Anathema der Politik, die nur noch folgenlose Vokabeln
umwälzt, während die ökonomischen Deckungsmassen schwinden. postulierte
noch der Altkanzler Erhardt “Wohlstand für alle” aus dem
Selbstvertrauen einer jungen Konjunktur, lautet die heute unausgesprochene
Formel, die zum ehesten als Rentenformel gelten möchte: “Überleben für
alle”. Gesellschaften haben in ihrer Selbstbeobachtung blinde Flecken,
die zu ihrer Selbsterhaltung notwendig sind. Diskriminierung,
Benachteiligungen deformierten zur Restgröße von Gesellschaften, die
stets das Beste aller Mitglieder will. So wird der Gesellschaftsvertrag
zum klassenlosen Gesellschaftsspiel ausgewürfelt. Es bleibt nicht mehr
als eine Gesellschaft, die sich nicht selbst beschreiben kann. Der gute
alte Klassenhass wird zur personalen Attitüde Unverbesserlicher
heruntergefahren, obwohl doch die Unversöhnlichkeit von Strukturen zu
kritisieren wäre, die in ihren kategoriearmen Vexierspielen den wahren
Zustand solcher Verhältnisse verbergen, die nicht mehr Verhältnisse
genannt werden dürfen. Ideologien mögen das Rüstzeug des Teufels sein,
aber was sind postideologische Freiheiten, die den Blick auf die
Unterschiede nicht mehr wahrnehmen dürfen? Die ideologischen
Wahrnehmungshoheiten alter Klassenstandpunkte werden gegen die Diffusität
einer müden Theorie und ihrer lebensweltlichen Ausläufer einer ubiquitären
Spaß- und Erlebnisgesellschaft eingetauscht. Wahrnehmungsschwächen, die
je gegenüber den feinen Unterschieden bestanden, garantieren die relative
Stabilität unsichtbarer Klassen. Diesen Klassen fehlen die Fähnlein und
Standarten, die Inkunabeln und Hoheitszeichen, Ihre Vermischungen sind Prätention
einer transitiven Gesellschaft, in der jeder vom Millionär zum Tellerwäscher
– oder umgekehrt - werden darf. Welcome in the Club – ab jetzt für
jedermann, aber nicht jeder ist jedermann und so sind wieder einige
gleicher als andere. Und keine Instanz in Sicht, die sich der verlorenen
Sprache der Kritik annehmen möchte.
Goedart
Palm
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