Macht es noch Sinn, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu
unterscheiden? Sind uns nicht Anfang und Ende gleichgültig geworden? Sind wir nicht kurz
davor, selbst Alpha und Omega zu werden, von Vergangenheit und Zukunft befreit? Wer solche
Fragen stellt, macht sich verdächtig, aus der Geschichte aussteigen zu wollen, nicht
länger dem irrwitzigen Räderwerk von Katastrophen und Rettungen, Erfolg und Scheitern,
Neuem und Altem, Aufstieg und Niedergang, Tod und Leben ausgesetzt zu sein. Die
Vorstellungen, die diesen Ausstieg aus der Geschichte begleiten, sind widersprüchlich.
Einerseits sind solche Fragen erfahrungsgesättigte, ja mehr, erfahrungsübersättigte
Zeichen von Geschichtsmüdigkeit, andererseits sind sie die späte Frucht einer
Beherrschungsgeschichte, die aus den permanenten Siegen technologischer Vernunft auf die
gottähnliche Stellung des Menschen schließt. Alte Zentrumsverluste des Menschen sollen
in Hypertechnologien kompensiert werden, die den Ausstieg aus der menschlichen
(Leidens)Geschichte garantieren, zugleich aber offen lassen, ob es sinnvoll ist, den
Menschen in seiner klassischen Selbsternennung als historischen Protagonisten noch länger
ernst zu nehmen. Wenn die Diskurse von Philosophie, Kunst, Politik und Wissenschaft darauf
zulaufen, alles beherrschen zu wollen, kann auch die vormals so eherne Zeit nicht davon
ausgenommen sein.
II. Ausstieg aus der Zeit
1. Zeitreisende
Noch sind wir wider alle Technofantasien nicht so weit, uns zu
überzeitlichen Göttern der Welt aufzuschwingen. Noch polarisieren sich in der Gegenwart
Zeitvisionen zwischen geschichtsphilosophischer Apathie und technologischer Omnipotenz.
Folgen wir den Allmachtsfantasien neuer Zeitherrscher und stellen uns vor, wir hätten
eine Zeitmaschine. Nicht jenes unbeholfene, steuerungsschwache Instrument von H.G.Wells,
sondern ein rasantes Gefährt, das uns in Überlichtgeschwindigkeit an jeden historischen
und zukünftigen Ort trägt. Es wäre uns gegeben, auszusteigen, in den Lauf der
Geschichte vehement einzugreifen - Vergangenheit von Zukunft und Zukunft von Vergangenheit
zu befreien. Der Leser, der hier nicht mitfahren will, sei erinnert, dass selbst Stephen
Hawkings inzwischen Zeitreisen theoretisch für möglich hält und eine wachsende
Zahl von Physikern behauptet, dass Überlichtgeschwindigkeiten erreichbar wären. Der
Kölner Physiker Günter Nimtz verharrt gar nicht nur bei der Theorie,
sondern hat bereits Experimente vorgelegt, in denen Lichtgeschwindigkeit von Mikrowellen
überholt wird. Lassen wir die Irritation beiseite, dass Zeitreisen angeblich in
Paralleluniversen enden, weil nur so die berühmten Paradoxe vermeidbar wären, dass der
Zeitreisende seine eigene Existenz auslöscht - etwa im "Granny-Paradox":
Großmutter kommt ums Leben, weil der Zeitreisende en passant ihren Tod verursacht.
Machen wir uns also für eine kurze Zeit der Illusion die
Hoffnung, Eingriffe in die Geschichte seien jederzeit, an jedem Ort möglich. Was wäre zu
tun? Wäre etwas zu tun? Der Blick fällt auf Katastrophen, auf Myriaden von
Unglücklichen, auf Irrwege und Sackgassen, die in Inquisition, Holocaust und Genozid
endeten und vielleicht schon bald in globalen Umweltapokalypsen überboten werden. Aber
mündet nicht jede Geschichtsmanipulation in dem unendlichen Rückgriff, dass andere
Kausalitäten unvorhersehbare Ereignisse zeugen, mithin alte Katastrophen gegen neue
eingetauscht werden - jede Zukunft schließlich doch von ihrer Vergangenheit eingeholt
wird? Schneiden wir aus der Geschichte das Leid heraus, lassen wir die Katastrophen
ungeschehen sein, versagen wir Figuren wie Napoleon, Hitler, Stalin und
ungezählten Menschheitsschlächtern ihr Geburtsrecht, zerschlagen wir die Konstellationen
unserer Geschichte, das Ineinander von Gut und Böse, die Verkettungen des Irrsinns mit
ihrem vermeintlichen Widerpart, der Vernunft. Der unendliche Rückgriff auf eine
Heilsgeschichte macht zuletzt jede Geschichte überflüssig. Wir bestreiten das
Daseinsrecht der Welt, weil ihre Wiederholungen aus Leid und Tränen, Blut und Sperma,
Glück und Unglück nicht länger erträglich ist. Der Auszug aus dem Garten Eden findet
nicht statt, Sintflut und "dies irae" bleiben ungeschehen, stattdessen ein immer
währender Aufenthalt in einem Paradies, in dem nichts mehr geschöpft würde, sondern
immer alles gleich gut wäre. Diese Fantasie stößt auf das Paradox, dass nichts mehr dem
gleichen würde, was Menschheit, Geschichte, Welt und vielleicht auch Gott bestimmt. Eine
solche Perspektive können wir nicht denken, weil wir unsere eigene raison d´etre
bestreiten müssten, die Welt müsste ungeschehen bleiben. Dieses Paradox ist
verstörender als die omnipotenten Prophezeiungen technologischen Zeitherrschaft. Was
würden wir mit der Zeitmaschine tun? In einem Anflug von amor fati sie vernichten, um
unsere Welt zu retten oder die unrettbare Welt aus der Zeit zu streichen, in einen
zeitlosen Zustand der Nichtexistenz zu wechseln? Die Tabula rasa der Entzeitlichung wäre
zuletzt nicht mal eine tabula, sondern das reine Nichts - genau so undenkbar wie die
Schöpfung der Welt aus dem Nichts. Wir stoßen mit dieser Vorstellung durch die Zeit
hindurch, stehen außerhalb von Zeit und Raum - und stünden doch nirgendwo und
nirgendwann. Beginnen wir mit unserer Geschichte.
2. Die Spur der Steine
James Hutton bereinigte um 1788 diese Geschichte von allen
Daten, die bisher von Historikern zu einer langen Ereigniskette menschlichen Handelns
zusammengetragen worden waren. Der Vater der modernen Geologie dekretierte kurzerhand,
dass die Welt vollkommen sei, sich in einem Zyklus ohne Ziel bewege und der Mensch eine
belanglose Erscheinung unter der Sonne sei. Klassische Geschichtsschreibung verstelle
dagegen den Blick auf die Perfektion dieses Zyklus. Katastrophen, ökologische
Zusammenbrüche, Schlachten und Siege wären gegenüber der Reproduktion der Welt Ballast
- nicht wert, erzählt zu werden. Nun war Hutton ein universal gebildeter Mann, den
der Vorwurf nicht treffen konnte, seine Ignoranz in einem Modell der Welt zu legitimieren,
das jede Bedeutung der Menschengeschichte leugnete. Huttons geschichtslose Welt
radikalisierte den Blick auf das zentrale Problem der Geschichte: Geschichtsschreibung ist
Perspektivenwahl. Der konventionellen Überzeugung zufolge hat jede Zeit ihre eigene
Vergangenheit und ihre eigene Zukunft. Huttons Kahlschlag war krass: Weder besaß
die Zukunft eine Vergangenheit noch besaß die Vergangenheit eine Zukunft. Zu befreien
gibt es nichts, weil alles frei ist.
III. Zeitherrschaftsformen
Huttons Befreiung der Welt von den Zeiten blieb eine
monolithische Position. Zumindest aber die Abwendung von einer vordergründigen Personen-
und Ereignisgeschichte, die Jahreszahlen nach Regenten, Kriegen und Katastrophen markiert,
wurde auch in einflussreichen Zweigen moderner Geschichtswissenschaft vollzogen.
Strukurelle Betrachtungen von Zivilisations- und Lebensbedingungen konnten in ihrer Genese
nicht mehr aus den Sensationsveranstaltungen der Weltgeschichte erklärt werden. In dieser
Umwertung der Zeiten werden vormalige Großereignisse zu Miniaturen und Arabesken der
Geschichte. Wir feiern keinen Sedanstag mehr und die Oktoberrevolution mag bedeutungslos
gegenüber der Erfindung des Kühlschranks sein.
Auf der Recherche nach unserer Zeit sind wir von einer Vielzahl
heterogener Zeitbegriffe umstellt: Subjektive versus objektive Zeit, relative versus
absolute Zeit, Geschichtszeit versus Naturzeit, Eigenzeit versus Fremd- und Weltzeit,
metrische Zeit versus Ereigniszeit pluralisieren den Zeitbegriff bis zur Unkenntlichkeit.
Aber sind diese unterschiedlichen Zeitrelais nicht allesamt Fehlschaltungen? Hatte doch Kant
dekretiert, dass Zeit kein Begriff, sondern eine Anschauungsform des Denkens ist, keine
Kategorie, sondern Medium des Verstandes. Das hatte bereits Augustinus geahnt, als
er seine Schwäche eingestand, sein intuitives Wissen von der Zeit einem Fragenden zu
verdeutlichen. Mögen auch Zeitbilder sich immer wieder an ihrer Begrifflichkeit stoßen
und schlecht synchronisierbar sein, so schält sich doch eine Zeitumgangsform heraus, die
im Lauf der Geschichte immer drängender wurde: Menschen unterwerfen sich der Zeit nicht
einfach, sondern instrumentalisieren sie, wollen das Herrschaftsverhältnis der Zeit über
Mensch und Geschichte umkehren in eine Herrschaft über die Zeit. Geschichte und Natur,
Welt- und Selbstverständnis werden von operationalen Zeitbegriffen geprägt. In einer
politisch, sozial, kulturell und technologisch entfesselten Moderne wurde das schon zuvor
gebrochene Vertrauen vollends schwach, Zeit als Begriff vereinheitlichen zu können. Ja es
kommt nicht einmal darauf an, die Zeit auf ihr flüchtiges Wesen zu treiben, sondern nur
zu erkennen, dass menschliches Handeln sich aus diesem Prokrustesbett befreien, jene
unverbrüchliche Fessel abstreifen will. Heidegger entmachtete den Zeitbegriff und
erkannte: "Die Zeit ist sinnlos; Zeit ist zeitlich." Wer mithin nur
kontextlos von der Zeit als Ding, das man an der Uhr abliest, spricht, macht sich
verdächtig, den Begriff der Zeit zu mythisieren, die Zeit ihrer Zeitlichkeit zu berauben.
Nenn´ mir also deine Zeitvorstellung, und ich sage dir, wer du bist.
1. Philosophische Endspiele
a. Meisterdenker in der Zeit
Auch Wahrheitsliebe ist der Zeitlichkeit unterworfen. Philosophen
suchen die Wahrheit in der Geschichte und den Dialektikern unter ihnen gilt gar die
Geschichte als Wahrheit. Aber Philosophen lieben nicht nur die Wahrheit, sondern im Griff
des Begriffs wollen sie zugleich jene archimedischen Punkte finden, der Welt eine bessere
Zeit zu verordnen. Das galt lange vor Marx, der glaubte, die klassische Philosophie
aufs Altenteil zu bescheiden, als er sein paradoxes Machtwort sprach, dass es nicht darauf
ankäme, die Welt verschieden zu verstehen, sondern zu verändern. Paradox, weil
geschichtsteleologisches Handeln nur aus Interpretationen erwächst und Marx bei
der Befreiung der Zukunft von der Vergangenheit nicht nur die Gebrauchsanweisung, sondern
auch eine schneidige Geschichtsmorphologie mitlieferte. Das hatte er von seinem Ahnvater
und Vorläufer Hegel, dem großen Terminator allumspannender Geschichtsphilosophie
gelernt: Im dialektischen Stufengang des Freiheitsprinzips durchschritt dieser mit
preußischem Ordnungssinn die Äonen gleich bis zu ihrem Ende. Die Stufen der Geschichte,
die Zeitmodi schienen ihm logisch verknüpft, ihr Weg führe zum Endzweck des
Selbstbewusstseins des Geistes von seiner Freiheit. Wenn die Vernunft die Welt beherrsche,
müsse das auch für Weltgeschichte gelten, war sein zwingender Reim auf die wechselvollen
Zeiten. Nun wäre die Entfaltung des Weltgeistes in der Zeit mit späteren
Geschichtslogiken vereinbar gewesen, wenn Hegel nicht diese Freiheit in Gottes
Willen überführt hätte. Gottes Vollkommenheit, seinen eigenen Willen zu wollen, schnitt
jede Geschichtsbetrachtung aus, die Freiheit als Freiheit von jedem Zweck, auch einem
göttlichen, formulieren zu dürfen. Erst die im doppelten Sinne
"ent-täuschende" Vernunftkritik der Wirklichkeit schuf Einbruchstellen für
eine Geschichte ohne Zweck - eine Geschichte, die weder Gott noch den Menschen
voraussetzt. Die Zeit verlor ihre von Hegel und anderen philosophischen
Zeitherrschern zugeschnittenen Korsettagen und befreite sich von ihren Zwecken.
b. Verwalter der Nachgeschichte
Es kristallisierte sich die Vorstellung, dass wir auf dem Marsch
durch die Jahrtausende bereits in unserer Nachgeschichte angekommen seien. Befreiung von
Vergangenheit und Zukunft war die lakonische Anwort auf eine entzauberte Welt, in der
evolutive Gläubigkeit nicht mehr gelingen wollte. Arnold Gehlens früher
Begriff des "Posthistoire" zog mit Macht in Universitäts- und Modephilosophien,
Trendwissen und Alltagsbefindlichkeiten ein, nahm den Glauben an die gute Geschichte, die
sich gegen alle Irrungen und Wirrungen der Vernunft zum Heil hinschreibt, und hinterließ
gegenwärtige Trümmer, wo zuvor historische Fassaden standen. In der Nachgeschichte wird
Geschichte ihrem eigenen Prinzip unterworfen. Sie wird alt, kommt aus der Mode und wird
von sich selbst befreit. Der Geschichte und ihrem klassischen Dreischritt von
Vergangenheit über Gegenwart in die Zukunft wurde der Konkurs eröffnet. Konkursverwalter
wurden Dekonstruktivisten, Postmoderne, Untergangsapostel, die mit der
geschichtsphilosophischen Konkursmasse spielten, ohne vielmehr als ein patch-work von
Geschichten zu Stande zu bringen. Grunderfahrung der Nachgeschichtstheoretiker ist nach Lyotard
das Scheitern der "Metaerzählungen": Die Aufklärung des Menschengeschlechts
kollabiert, der Weltgeist entfaltet sich nicht, der Siegeszug des Proletariats bleibt
endgültig im Dickicht der Vergangenheit stecken. Aber auf diesem schlecht gefütterten
Ruhepolster einer geschichtslosen Zeit bleibt es unbequem. Auch negativistische zeitlose
Theorie ist pure Metaphysik, weil sie sich des Zirkels nicht erwehren kann, selbst der
Zeitlichkeit zu unterliegen.
So erzählen Posthistoriker das Ende einer Geschichte und damit
eine neue Geschichte, wenigstens aber schreiben sie kleine Geschichten, die Stoff neuer
Überlieferung sein mögen. Auch ihre geschichtslose Zukunft sitzt fest auf einer
Vergangenheit, die eben das und nichts anderes gewollt hat. Nachgeschichtsschreibung ist
nicht mehr als ein Paradox, das die rapide Spiralbewegung der Zeit in eine notwendig
ungewisse Zukunft wie einen gordischen Knoten durchschlagen will und doch nur Phänomen in
der Zeit ist. So wurzelt das "Posthistoire" selbst in klassischer
Geschichtsphilosophie und religiösen Zeitbildern, die auch in ihrer Dekonstruktion
aufleuchten. Chiliastisches, soteriologisches und eschatologisches Denken haben die
menschliche Geschichte als Durchgangsstation des gott- und heilsuchenden Menschen
konstruiert. Mit dem Ende der Geschichte beginnt das wahre Leben. Das Paradies hat keine
Geschichte mehr, es ist ihr Ziel. Die Zukunft des Paradieses ist immer währende
Gegenwart. Alle Uhren stehen still. Diesen Ort perennierender Langeweile haben die
unfröhlichen Verwalter der Nachgeschichte lediglich in die Gegenwart verlegt.
2. Geschichtsschreibung après la lettre
Die Posthistoriker vermochten das klassische Bild der Geschichte
nicht zu stürmen. Sie ließen uns auf der Hinterlassenschaft Walter Benjamins
sitzen, dass es keine "Verfallszeiten" gibt. Mit anderen Worten: Wie kann das
aus der Vergangenheit für die Zukunft befreit werden, was in den Herrschaftsdiskursen
verfemt, verdrängt, vergessen wird? Wie kann eine Heilsgeschichte sich vom Angelus novus
leiten lassen, ohne theologische Irrwege neu zu asphaltieren? Benjamin antwortete
mit einer kopernikanischen Wende in der Geschichtsphilosophie: Vergangenheit ist nicht
länger ein aufgeschlagenes Buch, das nur nachzulesen wäre, sondern das Gewesene ist im
Doppelsinne des Wortes ein Einfall, der nur in rettender Erinnerungsarbeit möglich wird.
Es gibt keine Geschichte, sondern nur verschiedene Weisen, sie zu interpretieren. Zum
Selbstverständnis der Historiografen wurde es, die Geschichte nicht ruhen zu lassen, sich
von den Zentren der Universalgeschichte in Provinzen, Dörfer, ja selbst Hinterzimmer und
Müllhaufen der Geschichte zu begeben, Spuren freizuwischen, um aus Apokryphen und Abfall
Brenngläser einer anderen Geschichte zu schleifen. Nicht nur Ötzis, Pharaonen und der
jetzt nach über 700 Jahren exhumierte Friedrich II., sondern auch Verlierer der
Geschichte und Alltagsfiguren werden zu beredten Zeitgenossen, die Zwiesprache erzwingen
und die hermeneutische Durchpflügung der Geschichte immer dichter werden lassen. Aber
auch der historiografische Herrschaftswille, die Vergangenheit vom Joch der
Herrschaftsgeschichte zu befreien, ist nicht für alle Zukunft entschieden. Benjamins
Passagenwerk blieb unvollendet. Die DNA-Analyse Jahrhunderte alten Blutes raubte Kaspar
Hauser den zuvor verliehenen, wenn auch apokryphen Titel "Prinz von Baden"
und versenkte den ursprungslosen Unglücklichen wieder in der Gruft einer Geschichte, die
Widerstand leistet, wenn die Fragen gestellt werden: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin
gehen wir?
Wer diese und andere Vergangenheiten von ihrer ungewissen Zukunft
befreien will, muss die Vergangenheit korrigieren. Ein philosophisch-literarischer
Seitenzweig fröhlicher Zeitherrschaft präsentiert folgerichtig kontrafaktische
Geschichtsschreibung: Uchronie. Der französische Neukantianer Charles Renouvier
verankert die Idee des Fortschritts in die Vergangenheit. Die Vergangenheit wird im
Zeichen der Aufklärung, besser: Nachklärung, neu erfunden, so umgeschrieben, wie sie
hätte sein können und sollen. Geschichtsphilosophische Extrapolationen in die
Vergangenheit haben schon vor Renouvier ihre Tradition in Sciencefiction, die das
düstere Mittelalter nicht zulassen, um humane Zeitkorrekturen durchführen, Zukunft von
der Vergangenheit zu erlösen. Kontrafaktische Geschichtsschreibung operiert mit kleinen
Zufällen, die für großen Wirkungen verantwortlich sein sollen. Vilém Flusser
etwa korrigiert die verworrene Vergangenheit zwischen dem 2. Jahrhundert n. Chr. bis zum
14. Jahrhundert n.Chr. in einem "Filmskript", das den Geschichtsstreifen auf 200
Jahre zusammenschneidet. Erst dieser Film mache die Geschichte rund, löse handlungsarme
und überflüssige Episoden aus dem Erzählwirrwarr und schließe mit einem sauberen
match-cut an. In diesem cineastischen Höhenflug wird nicht nur die Vergangenheit von sich
selbst befreit, sondern der Film avanciert zum Paradigma der Geschichtsschreibung. Die
Zukunft findet statt, kann sich aber zufrieden über ihre vernünftige und zugleich
ästhetische Kontur im Drehstuhl der Geschichte zurücklehnen. Im Konflikt von Drehbuch
und Wirklichkeit antwortet die Ironie der Uchronie mit einem klaren "Schlecht für
die Fakten".
Freilich ungelöst bleibt das Paradox, dass der Eingreifende sich
selbst in dem Maße ändert, in der er Vergangenheit - und auch Zukunft manipuliert. Das
uchronische Projekt bleibt von technischen Details unbelastet, während es mit dem Prinzip
Hoffnung die Hypotheken der Vergangenheit valutiert. Heideggers
"Geworfenheit" als Existenzial des Menschen verändert sich im kontrafaktischen
Planspiel zur manipulierbaren Reißbrettexistenz. Die ontochronologische Vernunft
durchleuchtet ihre Vergangenheit, um der Zukunft auf die Sprünge zu helfen. Eine
Theodizee als Nachkorrektur der Schöpfung erledigt den Disput zwischen Leibniz`
bester aller möglichen Welten und Voltaires "Candide". Vergessen wir Hegels
"wahrhafte Theodizee" in der uchronischen Fantasie, dass die Vergangenheit keine
erosionfeste Masse ist, geschrieben und geformt für alle Zukunft. Vergangenheit wird
entfesselt, um die Zukunft vom Joch des unabänderlichen Fatums zu befreien: Wären die
Bewohner Lissabons vor dem großen Erdbeben rechtzeitig evakuiert worden, wären die
Siechhäuser, Schlachtfelder, Konzentrationslager leer geblieben, ja wäre alles anders
gewesen. Wo wären wir hingekommen, wenn die Vernunft nicht mühselig ihren Weg durch
Irrungen und Wirrungen genommen hätte, sondern von Anfang an "Fiat lux" unserem
Weg geleuchtet hätte?
Freilich bleiben die Geschichtsrevisoren eine Antwort auf die
Frage schuldig: "Warum gibt es diese Welt zwischen Sternstunden und Höllenängsten
überhaupt?" Nietzsche wollte die Geschichte nicht umschreiben, er rettete
sich gegenüber dem europäischen Nihilismus, der Wüsten wachsen lässt, in amor fati:
"Ich will Nichts anders, auch rückwärts nicht, - ich durfte Nichts anders
wollen
Was sind zuletzt diese zwei Jahrtausende? Unser lehrreichstes Experiment, eine
Vivisektion am Leben selbst
Bloß zwei Jahrtausende!" Nietzsche bindet
seine Liebe an das Faktische, viel weniger als einen Steinwurf entfernt von Hegels
provokativem Diktum über die Vernunft der Wirklichkeit. Bejahend will Nietzsche
der Vergangenheit beikommen. Eins aus dem anderen, alles ist notwendig, kein Unglück darf
ungeschehen sein: "Das Leben jedes Tages und jeder Stunde scheint nichts mehr zu
wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen; sei es was es sei, böses wie gutes
Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das Ausbleiben eines
Briefes, die Verstauchung eines Fusses, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein
Gegenargument, das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich sofort
oder sehr bald nachher als ein Ding, das "nicht fehlen durfte", - es ist voll
tiefen Sinnes und Nutzens gerade für uns!"
Nietzsches amor fati und die Projektionen der Zukunft in
eine formbare Vergangenheit treten als Antipoden auf. Bleibt die Vergangenheit unantastbar
oder wird sie von ihrem Gewordensein befreit? In der Gegenüberstellung wird die
Gemeinsamkeit leicht übersehen. Wer von Vergangenheit spricht, formt sie nach seinem
Bild, verfugt die Ereignisse in seiner Logik. Der gläubige Geschichtspositivismus
scheiterte, weil der Beobachter zugleich selbst eine historische Position einnimmt, die
sich wie ein schweres Gewicht auf seine vorgeblich objektive Erkenntnis legt. Mit seiner
Bewegung in der Gegenwart verschieben sich Luhmann zufolge zugleich permanent die
Horizonte von Vergangenheit und Zukunft. Beide Zeithorizonte sind keine aus Ereignissen
bestehenden Wirklicheitsmengen, sondern selektive Leistungen des Beobachters. Hatte schon
das christliche Denken, etwa im Modell der Vergebung der Sünden, die Vergangenheit für
änderbar erklärt, erwächst der Gegenwart eine Beobachtungsposition auf eine offene
Vergangenheit, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume für die Zukunft belässt.
Tradition wird zum Bearbeitungsgegenstand von Historikern, die immer neue Deutungsmuster
auf die Geschichte stülpen, um Optionen für eine ungewisse Zukunft zur Verfügung zu
stellen. So werden Erinnerung und Vergessen auf die jeweilige Semantik bezogen, um aus der
Komplexität der Vergangenheit die Stränge herauszufiltern, auf denen die Zukunft
fortgeführt werden soll. Mit dem Anhub der modernen Geschichtsschreibung im 18.
Jahrhundert wird Geschichte selbstbezüglich, jeder geschichtliche Moment schreibt ab
jetzt seine eigene Geschichte. Heraklits Wissen triumphiert auch hier: Nie werden
zwei in dieselbe Geschichte blicken, aber auch nie in dieselbe Zukunft. Nach diesem
Eintritt der Geschichte in die Geschichte kann sich jede Zeit für ihre Zeit von der
Vergangenheit und der Zukunft befreien, die einem anderen historischen Beobachter
als Zeithorizonte den Weg wiesen.
3. Kunst als Zeitbeherrschungstechnik
"Mag das Reale beherrschen die Zeit; du bleib ideal, o
Mus´und spiel mit dem Realen allein" (Friedrich Rückert). Auch wenn das
Ideal nicht die Zeit beherrscht, ist es doch nach Platon ein überzeitliches
Institut, unwandelbar, ewig vor aller Zeit, ungeboren vor Urknall und Weltwerdung. Finden
wir hier die Emanzipation von Vergangenheit und Zukunft? Der platonische Glaube konnte
sich zwar nicht über die Zeit retten. In der Kunst hat sich aber das Ideal des
doppelbödigen Spiels mit dem Realen erhalten. Künstler suchen im Anhub der Moderne ihre
Ideale nicht länger zeitvergessen, auch an Idealen nagt die Zeit, lässt sie zu Idealen
von gestern und vorgestern verkommen. Künstler herrschen in ihrem Ideal über
Vergänglichkeit, fixieren den Augenblick und formen ihn im Paradox der zeitlosen Zeit zur
ewigen Allegorie: Vanitas vanitatum. Schreckgespenster der verrinnenden Zeit, Totentänze
und Herbstlaub, Memento mori der Schädelstätten und Apokalpysen bestreiten sich selbst
in der Konservierung für eine Zukunft, die immer wieder gleich stattfindet. Mit anderen
Worten: Künstler sind - zumindest Zeit ihres Lebens - Überlebenskünstler, sie bannen
den flüchtigen flatus vocis in Lettern, retten das Frühlingserwachen in ewiger
Wiederkehr, lassen den Augenblick Marmor werden. Der Wunsch Fausts nach dem
verweilenden Augenblick war längst zuvor in Leonardos Malerei eingelöst. Leonardo
konstatierte "Lo instante non ha tempo" (Der Augenblick ist zeitlos). Im
"Augenblick" stoßen wir auf das Paradox der kürzesten Zeit, der logischen
Sekunde und ihrer längsten Dauer, der Ewigkeit. Dieses Paradox zu fixieren wird in
Malerei und Skulptur zur selbstverständlichen Zeitbeherrschungstechnik. Der gestaltlose
Augenblick wird gestaltet: Das berühmte Lächeln der Gioconda, in fünf langen
Jahren entstanden, gerät zum ewigen Augenblick. Im sfumato...dem bewegten Ausdruck der
Physiognomie behauptet Leonardo den Augenblick wider seine Gestaltlosigkeit. Die
immer währende Gegenwart dieses Lächelns, dessen Geheimnis in seinem bewegten Stillstand
liegt, schien gleichermaßen von Vergangenheit und Zukunft befreit. Aber als Marcel
Duchamp der Mona Lisa 1919 einen Schnurrbart unter die Nase zwirbelte, sie
als veritablen Transvestiten der Kunstgeschichte verspottete, versetzte er der
selbstgewissen Maxime "ars longa, vita brevis" einen Schlag. Die imperiale Geste
des Dadaisten markierte den vorläufigen Sieg einer Zeitbeherrschungstechnik, die das
zeitenthobene Ideal Leonardos an den Zeitklippen der Zukunft zu Schanden stößt.
Aber auch Dadaisten, Futuristen, Bilderstürmer, Avangardisten
und Transavantgardisten haben es sich vielleicht nicht träumen lassen: Die Kampftruppen
der Moderne gerieten in den Zeitarrest des Museums, jener bürgerlichen
Konservierungsfalle, der sie doch so leidenschaftlich ins Gesicht gespuckt haben. Ihre
ephemeren Novitäten, Schwitters Zettelträume, Warhols Konservenkartons, Beuys´
Fettecken oder Rots Schimmelkulturen wurden wider spontane Attitüden für die
Ewigkeit eingefroren. Konservatoren, Restauratoren, Kustoden bereiteten den Fetischen, die
sich vergebens gegen ihr Verfallsdatum aufbäumten, ein sanftes Endlager. So mutierte
Antikunst wieder zu Kunst, Prozesse erstarrten, Abfall geriet zu Asservaten, die mit
Teufelsposaunen und Engelstrompeten gefeierte Kunst der Moderne begann - im janusköpfigen
Wortsinne - zu "modern". Die so zukunftslüsterne Vergangenheit wurde dingfest
gemacht, von der Gegenwart zur Dauer verführt und verurteilt.
Film und Video verdrängten mit imperialer Macht nicht nur alte
Künste, sondern wurden Instrumente des Alltags. Der Film als Paradigma neuer
Zeitbeherrschung bietet Wunder an, die uns der Geworfenheit des zum Tode fortschreitenden
Lebens im "total recall" verflossener Jahre entheben. Rückblenden und
Vorausblenden, Zeitraffer und Zeitlupen, Montagen und Ellipsen zerschlagen lineare
Zeitordnungen, spielen mit unserem Zeitpfeil zwischen vergangener Geburt und zukünftigem
Tod - zumindest auf dem Monitor. Hatten schon zuvor Mythologien sich in überzeitlichen
Schreibkollektiven über Jahrhunderte erhoben, ist uns die Zeittranszendenz des Films
alltägliche Gewohnheit geworden. Geschichte wird im Film zum Simultanereignis
verschmolzen. Ein fantastische Synchronizität der Ereignisse - aber befreit uns das Spiel
allgegenwärtiger Monitore von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? In den Reaktionen
medial versierter Zeitgenossen haben Kommunikationswissenschaftler wie Irene Neverla
veränderte Wahrnehmung und Zeitsouveränität festgestellt. Im Umgang mit Internet,
Computer, Fernsehen und Handy gelten kreativen Zeitjongleuren, Temponauten und Netzsurfern
naturwüchsige Rhythmen, die alte Verkehrszeiten bestimmten, nichts mehr. Zeit wird in
Apparaten, die unsere Sinnesorgane aufrüsten, souverän gedehnt, gestreckt, gestaut,
gedrängt. Aber auch in dieser Autonomie wird die menschliche Eigenzeit im Ablauf zwischen
unabänderlicher Vergangenheit und ungewisser Zukunft nur für eine kurze Zeit technischer
Manipulationen aufgebrochen. Mag das Leben ein Roman sein, ein Film ist es sicher nicht.
4. Politische Zeitsouveränität
"Ein guter Archivar nutzt dem Staat mehr als ein guter
Artilleriegeneral" soll Napoleon über die mit Beginn der Neuzeit entstehenden
Archive gesagt haben. Das Archiv als Gedächtnis des Staats galt als Geheimwaffe von
Politik und Diplomatie. Hier wurden Hoheits- und Verwaltungsakte, juristische Titel und
Rechtsansprüche konserviert, um die Zukunft fest in den Griff der Vergangenheit zu
nehmen. Archivistik stand folglich der Staatskunst näher als der Geschichtswissenschaft,
die sich mühselig gegen Potentatenwillkür diese Arsenale erschloss, um sie zum
Laboratorium der Geschichte werden zu lassen. Inzwischen stößt aber politische
Zeitherrschaft auf gravierendere Probleme: Der Existenzanspruch von ca. sechs Milliarden
Menschen, die sich in einem Zeitraum von weniger als 50 Jahren verdoppeln,
provoziert Visionäre, die aus Rechnergeschwindigkeiten auf die Verzeitlichung der Erde
schließen, ohne das Problem des Raums lösen zu können. Überbevölkerung lässt sich
nicht virtuell verflüchtigen, Katastrophen lassen sich weder auf Rangierbahnhöfen der
Vergangenheit noch den Terminals der Zukunft verschieben. Sie existieren jetzt und es ist
"allerhöchste Eisenbahn" zu handeln, ohne auf messianische Rettungsaktionen zu
hoffen. Gibt es gleichwohl politisches Zeitmanagement, das uns von harten
Weichenstellungen vergangener Ereignisse und zukünftiger Folgen befreit? Lässt sich die
Zeit trotz der Menetekel, die zum lakonisch-trostlosen Alltagsgeschäft der
Weltberichterstattung wurden, so schalten, dass ein humaner Mehrwert für die Parias
dieser Erde herausspringt?
a. Öffentliche Zeitherrschaft
In der Rückblende der politischen Geschichte des Zeitsinns
lebten Troglodyten und andere Vorzeitgenossen im Raum - nicht zeitlos, aber mit sehr
beschränkten Zeithorizonten. Ägypten schlug sein Gedächtnis in Stein, aber die Zukunft
sollte nicht anders sein als die Vergangenheit - Zeitlosigkeit in der Zeit. Mehr noch als
die Babylonier und Chinesen waren aber bereits die Mayas von der Vorstellung getrieben,
die Zeit zu beherrschen, um eine Handlungslogik für die Zukunft daraus zu entwickeln.
Wurde ihnen die Zeit schon zum Programm, lebte der antike Mensch vornehmlich im Augenblick
- Vergangenheit und Zukunft drängten sich in diesen Punkt. Gewitztere Zeitgenossen
verstanden es aber schon bald, Zeit zum politischen Herrschaftsinstrument zu gestalten.
Machtrotationen auf Grund von Wahlen, Steuer-, Pacht-, und Zinspflichten wurden lange vor
der Geburt des modernen Staates zu wesentlichen Angelegenheiten der Zeitkontrolle.
Kalender waren Instrumente politischer Macht. Römische Pressuregroups verstanden es, auf
Priester einzuwirken, Jahre zu verlängern oder zu verkürzen. Der chaotische,
manipulationskranke Staatskalender veranlasste Cäsar bei seinem Machtantritt, den
Kalender zu reformieren, d.h. unantastbar werden zu lassen. Verdrängt wurde das
"carpe diem" des Horaz und der vormaligen Zeitdiffusion wurde der Garaus
gemacht.
Aber der Kampf um das Zeitmaß endete hier nicht. Revolutionen
und politische Umwälzungen, die ihre Zeit auf den Kopf stellen wollten, zielten
zuvörderst auf zukünftige Zeitherrschaft. Jakobiner begannen im Jahre Null und
zerschlugen mit der Zehn-Tage-Woche den "christlichen" Sieben-Tages-Rhythmus, um
die Erinnerung an die Schöpfungsgeschichte zu exterminieren. Die Vergangenheit sollte
gottlos sein, um die Zukunft menschlich werden zu lassen. 1789 wurde zwar der Kalender auf
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit umgestellt, euphorisch wurde selbst von
besonnenen Zeitgenossen das Jahr Null der aufgeklärten Moderne begrüßt, aber in der
"grande terreur" fiel die Zukunft weit hinter das ancien régime in die blutige
Inquisition politischer Korrektheit zurück. Die ungeduldige Vernunft der Revolutionäre
gebar der Zukunft eine Vergangenheit, die umso schrecklicher war, als sie sich im Zeichen
überwunden Glaubens sakrosankt gebärdete. Nicht viel anders als die Oktoberrevolution
1917, die den gregorianischen Kalender auf Revolutionszeit umschaltete. Erst mit
perestroika und glasnost begann die Ablösung der marxistisch-leninistischen
Zukunftshypotheken von einer geronnenen Geschichtsphilosophie, die im säkularen Paradies
enden sollte und doch nur Blut und Tränen, Konzentrationslager und Gulags, Kriege und
Katastrophen zeitigte. Aber auch der Preis für die Verabschiedung dieser tief
verschuldeten Vergangenheit war hoch, wie es die in Turbulenzen schlingernde Wirtschaft
Russlands dem ungeduldig auf den Dax reflektierenden Kasinokapitalismus täglich
demonstriert. Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, jede Vergangenheit schlägt
zurück.
b. Von der Aufklärung zur Abklärung
Selbst die ältesten Anwärter auf eine bessere Zukunft im
Zeichen schlechter Vergangenheit geben ihren Anspruch nicht auf, da sich auch im
"Tempel der Vernunft" das Wasser nicht in Wein verwandelte. Während das
Christentum die heiße Phase des Millenarismus, der inquisitorischen Durchdringung von
Gesellschaften mit Kreuz und Hexenhammer hinter sich hat und Zukunftsvisionen in
theologisch abstrakten Sphären entschärft wurden, reklamiert der islamische
Fundamentalismus für den Halbmond Ansprüche auf die Zukunft aller Gläubigen. Und wehe
den Ungläubigen! Die Befreiung der Zukunft von irdischen wie überirdischen Visionen
provoziert immer noch den horror vacui gegenüber einer kontigenten Geschichte, die neue
und alte Propheten auf den Plan ruft, Zukunftsangst mit erwartungsvollen Mauerschauen
aufzustacheln. Das Orakel hat sich zwischen Determinismus und freiem Willen zumeist als
spröde erwiesen. Delphis Antworten sind gefährlich, wenn sie vorschnell gedeutet werden.
Aber Nostradamus, Mohammed oder die gegen den Strich gelesene Bibel als
Offenbarungsgeschichte haben vorgesorgt: "Wenn der Prophet im Namen des Herrn redet,
und es erfüllt sich nicht und trifft nicht ein, so ist es ein Wort, das der Herr nicht
geredet hat ..." (5. Mose 18, 22). Visionen, die nicht den folgenlosen Sphären des
Ideals vorbehalten bleiben, bergen den Keim des Terrors. Humanität gegenüber den
Nachgeborenen besteht darin, sich von 1000-jährigen Reichen, kommunistischen Paradiesen
und anderen langfristigen Erlösungsszenarien zu befreien, die immer an Rampe und
Stacheldraht endeten. Können wir der ideologischen Arretierung vergangener Ziele in
Zukunft entkommen? Kann die Vergangenheit von ihrer prästabilierten Disharmonie zu einer
humaneren Vernunftsgeschichte befreit wird?
Wir leben im verstörenden Kontext widersprüchlicher
Zukunftsszenarien. Längst hat sich ein Beliebigkeitspluralismus unvereinbarer Ziele in
die westliche Politik eingenistet, der mit schwachen Formelkompromissen besänftigt wird.
Europaidee, transnationale Wirtschaftsbündnisse und global-virtuelle Vernetzungen
produzieren abstrakte Zukunftsvisionen, denen die Solidaritätsmasse in dem Maße abhanden
kommt, in dem Menschen ihre Lebenswelt nicht mehr überschaubar in Zeit und Raum
kontextualisieren können. Im Paradox der Entgegenwärtigung der Gegenwart blähen sich
Zukunftsplanungen hypertroph auf, schneiden sich in unseren Alltag, um schließlich in
kürzester Zeit zu verfallen. Planspiele, bereits die crux des real existierenden, aber
schlecht funktionierenden Sozialismus, werden zu nicht ablösbaren Hypotheken, scheitern
an immer neuen Kontingenzen, die dem Zugriff der Zeitherrscher spotten.
Die Spannung zwischen dräuenden Problemen, Handlungszwängen und
politisch nicht konsensfähigen "Risikofolgenabschätzungen" wird nicht leicht
ertragen. Das zoon politikon reagiert verdrossen auf die Meldung immer neuer Zeitbomben
zwischen Tschernobyl, Castor und Ozonloch. Dass es "kein richtiges Leben im
falschen" gebe, ist nicht länger Vademecum in einer Komplexität, die richtiges und
falsches Handeln hypothetisch werden lässt. Hier hilft nur Aufklärung. Aber nicht als
Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, sondern als Befreiung
des Menschen von seinem leichtfertigen Glauben an den Königsweg totaler Emanzipation. Aus
der Hybris rational verordneter Autonomie führt nur der Weg zum Begreifen menschlicher
Fehlsamkeit. Auch von der Emanzipation muss sich der so große wie kleine Mensch
emanzipieren, ohne mit dem Fahrstuhl in die Untertanengesellschaft zurückzufahren. Auf
dem Grat zwischen ideologisch proklamierter Freiheit von Altaufklärern und dumpfer
Unfreiheit zu wandeln, evoziert unsere neue Äquilibristik, das Gleichgewicht in den
Katastrophen zu bewahren. Die Dialektik der Geschichte, ihr Umklappen in konträre
Zustände, begründet die Skepsis gegenüber einer Vernunft, der gleichwohl noch keine
höhere Potenz der Welterschließung gefolgt ist. Parteiprogramme der ewig Gestrigen, die
das ewig Bessere fordern oder Handlungsmaximen blinden Eifers bleiben dagegen billige
Spielmünzen, wenn sich das Glücksrad der Geschichte dreht.
Ein neuer Humanismus als Zeitordnung des Menschenmaßes steht
noch aus. Kann Politik von der Volksherrschaft nationaler Räume zur globaldemokratischen
Zeitherrschaft avancieren? Nun könnte man die Zukunft politisch ruhen lassen, wenn sie
ohnehin nicht mehr planbar wäre. Aber alte Remedien werden neu formuliert, um dem horror
vacui, der ein horror futuri ist, zu entfliehen. Bildungspolitiker fordern lebenslange
Weiterbildung: "Life-long-learning" soll der Informationsflut die Stirn -
im wahrsten Sinne des Wortes - bieten. Arbeitspolitiker fordern Arbeitnehmer auf, sich
nicht länger auf erlernten Berufen auszuruhen. Bildungsaufrüstung stößt aber auf das
Paradox, dass dieses schnell zusammengeraffte Instantanwissen nicht zu einer
Internalisierung, zu praxisbezogenem Handlungswissen erwächst. In diesem Anspruch laufen
aber alle politischen Gegenspiralen zur rasenden Zeit Gefahr, nicht mehr als ein toter
Wettlauf zu sein, weil die biologische Altmasse Hirn begrenzte Verarbeitungszeiten
besitzt. Vielleicht muss das fragile Bündnis für Arbeit in ein Bündnis gegen inhumane
Halbwertszeiten umformuliert werden - gegen transrapiden Beschleunigungsterror und für
soziale Synchronisationen. Demokratie heißt als Chronokratie, auch die
Interpretationshoheit für die Zukunft und ihr Tempo nicht hinter Sachzwängen zu
verstecken, sondern als notwendigen Regelungsgegenstand sichtbar zu machen, freilich mit
einem stark reduzierten Prinzip Hoffnung auf stabile Zeiten, weil zum wenigsten gesagt
werden kann, was den exponenziell beschleunigten Wechsel vom Alten zum Neuen ablösen
könnte. Noch hat Politik es nicht verstanden, aus selbstvergessenen Zauberlehrlingen
Zeitgenossen werden zu lassen, denen die Harmonisierung von Welt- und Eigenzeit zum
Selbstverständnis wird.
5. Private Zeitherrschaft
a. "Swatchability"
Lässt sich die öffentliche Zeit nicht als Emanzipationsroman
schreiben, könnte doch private Zeitregentschaft vom Unbill des Beschleunigungsterrors
befreien. Mit der "Entdeckung" der Zeit im 16.Jahrhundert wird die Zeit eines
geschäftig werdenden Alltags justiert. Die gotische Turmuhr wird von der
zeitindividualisierenden Taschenuhr überholt, auch wenn Peter Henleins
"Nürnberger Ei" schwer in Taschen gelastet haben mag. Stundenpläne entstehen,
die dem zeitgenössischen Ideal der temperantia (Selbstbeherrschung) den Takt vorgeben. Friedrich
Rückert formulierte später für dieses neue Ideal persönlicher Zeitherrschaft:
"Wo ich an einem der Tage das Uhraufziehen vergesse, nicht das Zeitmaß allein fehlt
mir da, sondern das Maß." In der Geburt von Ordnung und Disziplin aus dem Geist der
Uhr entledigt sich der Zeitgenosse natürlichen Rhythmen, die noch heute in einigen
nichteuropäischen Ländern herrschen. Ab jetzt bestimmen Planungen die zukünftige
Lebenszeit. Gegessen wird nicht, wenn der Hunger quält, sondern wenn die Mittagsstunde
schlägt. So usurpieren Planungen der Vergangenheit eine wankelmütige Zukunft, sollen
ihren ungezügelten Fortgang zwischen Zufall, Chaos und Augenblickseinfällen wenn nicht
hindern, so doch mindern.
In Planung und Ereignis füllt sich die mechanische Zeit, die
stoisch unberührbar, mensch- und weltvergessen weiterläuft, mit Leben. Lebenszeit wird
Stoff der Erinnerung. Zwar gilt nur für wenige "Es kann die Spur von meinen
Erdetagen nicht in Äonen untergehn", aber Stundenbücher und Diarien geben
Rechenschaft über die verstrichenen Jahre und Tage - eingedenk der Mahnungen Senecas,
nicht am Ende eines kurzen Lebens mit leeren Händen vor dem Tod dazustehen. Die
Identität für die zukünftige Lebensgestaltung rückversichert sich in der Anamnese
eigener Geschichte. Während die Geschichtswissenschaft die Personen- und
Ereignisgeschichte nicht länger als adäquaten Erkenntnisgegenstand gelten lässt, lädt
sich private Geschichte mit Ereignissen auf, die inzwischen zu einer neoalexandrinischen
Bibliothek aus Memoiren und Biografien anwachsen. Der Sinnhorizont der eigenen Existenz
konturiert sich im Wechselspiel von Selbsterlebtem, Fama und Kolportage, aber auch als
Schnittstelle privater und öffentlicher Geschichte. In herausragenden Biografien, etwa Viktor
Klemperers curriculum vitae, werden private Zeugnisse öffentliche Anklagen, um
verdrängte Vergangenheit zu befreien - nicht von der Zukunft, sondern für die Zukunft!
b. Eigenzeitverluste
Die fröhliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wurde dem
urbanen Selbstverständnis zur zweiten Natur. Verzeitlichte Räume, nichtlineare Passagen,
Alltagskino, beschleunigte Paare und Passanten mit zahlreichen Motivvektoren verdichten
sich zu omnipräsenten Erlebnisörtern. Die Zeit heizt die Städte auf, als müsse sie
beweisen, dass nicht nur an den Rändern des Universums Zeit und Raum ineinanderlaufen.
Glaubten schon Reporter wie Kisch rasen zu müssen, weil denn anders der
ereignishechelnde Leser unbefriedigt bliebe, sprudeln Internet und Nachrichtenbörsen
inzwischen ohne Zäsur Informationen hervor, die vornehmlich den Ereigniswert haben,
Zeitgenossenschaft zu reklamieren.
Das vordem gemütliche "Horologicum principium", die
Fürstenweckuhr des wohl temperierten Lebens, weicht dem Präzisionsdruck von Atomuhr,
Stechuhr, Stoppuhr. Blieb alten oralen Kulturen Leben und Traum eins, Nirwana ein Ort ohne
Zeit, Jahrzehnte, ja Jahrhunderte keine Zeile Überlieferung wert, wurden
späteuropäische Stunden, Minuten, Sekunden, Bruchteile von Sekunden immer kostbarer.
Zeitbeherrschung und Zeitterror haben sich im Zeitplanungsinstrument "Kalender"
siamesisch verbündet: Bibel des neuen dauergestressten Managements und Freizeitfibel
eines erfüllteren Lebens. Aber Freizeit ist nicht Freiheit. Japaner, denen Freizeit zur
Fron wird, buchen Nachhilfestunden, um zu lernen, die vermeintlich kostbarsten Wochen des
Jahres, nicht aber sich selbst auszubeuten. Zeit soll gespart werden, obwohl Zyniker
behaupten, dass nichts zu sparen sei, was ohnehin ausgegeben werden müsse. Freilich
lässt sich eine globale Wettbewerbswirtschaft durch derlei müßiggängerische
Einflüsterungen nicht verunsichern. "Zeitcontrolling" markiert
Zeitverzögerungen in lernwilligen Unternehmen, schärft das Zeitbewusstsein der
Mitarbeiter - eine Disziplinierung, die dem Zeitregiment des modernen Strafvollzugs über
Lebenszeit und Tagesrythmus der Unterworfenen anverwandt ist. Kein Wunder, dass der
Maschinentheoretiker Lewis Mumford die Uhren als Schlüsselmaschinen des
Industriezeitalters nahm, deren Koordinationsfunktion paradigmatisch in der Stechuhr
kulminiert, die gleichermaßen für Eigenzeitentfremdung wie Gleichbehandlung steht.
Reduzierte Lebensarbeitszeit, Arbeitszeitverkürzung, flexible Arbeitszeiten entstetigen
die vormals gefestigten Wechselbeziehungen zwischen Arbeits- und Freizeit. Uhr und
Kalender werden zu Garanten und Widersachern persönlicher Zeitsouveränität. In der
Zeitbeherrschung versteckt sich die dialektische Falle ständiger Zeitverluste: Zur
rechten Zeit am rechten Ort zu sein wurde zum modernen Alltagsterror, der Rückblicke in
unbewegtere Zeiten wehmütig macht. Unabhängig von schwer lösbaren
Koordinationsproblemen, die etwa die Synchronisation des familiären Alltags vereiteln,
ruft die der Eigenzeit bleibende Zukunft nach neuen Optimierungsstrategien. Der Zeitterror
neuer telekommunikativer und transnationaler Superstrukturen macht Eigenzeitbeharrung
nicht einfach. Virilios Rundumschlag gegen die digital generierte Zeit ahnt bereits
die transhumane Zeitherrschaft reiner Geschwindigkeit. Virilio sieht im Siegeszug
rasender Technologien die klassische Linearität - Vergangenheit, Gegenwart,
Zukunft - ausgetauscht durch Echtzeit und kinematisch-digitale Überzeitlichkeit.
Realität überführe sich in Geschwindigkeit, die Zeit und Raum transzendiere. Rasender
Stillstand sei die Folge, eine conditio inhumana für biologisch anders getaktete Körper.
Private Zeitherrschaft scheint in der Apokalypse von Medien- und Maschinenzeiten
ausradiert zu werden. Die Schwäche dieser Beschleunigungstheorie liegt aber in der
Totalisierung eines medialen Zeitbegriffs, der des Wechselspiels von objektiven und
subjektiven Zeitbegriffen enträt. Noch lässt sich subjektive Zeit nicht auf rasenden
Stillstand reduzieren, noch versucht der haltlos werdende Zeitgenosse seine Zeit mit den
Zeitläuften aus Echtzeit und Virtualität zu synchronisieren. Noch haben wir uns nicht zu
virtuellen Speicherexistenzen dematerialisiert, die jenseits von Vergangenheit und Zukunft
jederzeit erscheinen können.
Goedart Palm |