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Wirklichkeitsrequiem

Jean Baudrillard oder die alten Leiden der neuen Theorie  

Am 20. Juli 2009 wäre Jean Baudrillard achtzig Jahre alt geworden  

Die Wüste ist der signifikante Topos der späten, nicht enden wollenden Moderne. Postmoderne ist nichts anderes als Wüstenverwaltungspolitik von philosophischen Administratoren, die sich alter Kategorien erinnern, die aber keinen Sinn mehr machen. Friedrich Nietzsche leitet diesen brisanten Ort als eine hypertrophe Form ein, die bedrohlich das Aids der Sinnlosigkeit im Subjekt wuchern lässt. Bei Jean Baudrillard avancierte die Wüste zum Wunschziel des philosophisch erzwungenen Abschieds von der Wirklichkeit: „In der Wüste muss ich die Einsamkeit nicht erst suchen, ich bin Teil davon. Ich bin auch nicht mit mir selbst allein, das wäre wieder die romantische, westliche Form der Einsamkeit. Nein, die Wüste ist für mich die klarste, schönste, hellste, stärkste Form der Abwesenheit.“[1] Strahlte vorher die Wahrheit, schien das Licht der Aufklärung und glänzten viele Sonnen der Erkenntnis, wird die Wüste nun zum Ort der Abwesenheit von den urbanen und medialen Exzessen unserer seinsvergessenen Alltagswirklichkeit. Doch es kommt noch schlimmer: „Später habe ich den Traum auf Städte übertragen, denn manchmal kann sich auch im urbanen Raum diese losgelöste Art des Reisens einstellen. Große Städte wie New York empfinde ich auch wie Wüsten, vertikale Wüsten. Sie mögen extrem dicht und bevölkert sein, aber dahinter verspüre ich die Leere dieser Urszene.“ Hier spricht ein vormals kämpferischer Intellektueller, dessen tiefes Misstrauen gegen die einst so mächtigen Potentiale der Theorie keine Konstruktion der „condition humaine“ mehr zulässt. Baudrillards Wüste ist letztlich der von Nietzsche beschriebenen nahverwandt, also als ein (Nicht)Ort, der wächst und schließlich als fragile Daseinsverfassung des entwurzelten Daseins übrig bleibt. „Die Welt ohne das eigene Ich, das könnte auch die Welt ohne die menschliche Spezies sein. Die Welt, bevor die Menschen sie betreten haben. Oder nachdem sie wieder von ihr verschwunden sind. In meiner Fantasie steht die Wüste für diese Vorahnung eines Planeten, der nicht mehr von Menschen bewohnt wird.“[2] Der Tuaregführer Mano Dayak sieht das völlig anders: „Jedes Mal, wenn ich der Wüste gegenüberstehe, führt sie mich auf die erregende Reise in mein eigenes Ich, in dem wehmütige Erinnerungen, Befürchtungen und Hoffnungen des Lebens miteinander streiten. Wer in der Wüste überleben will, muss sie verstehen, ihr zuhören. Denn sie wird immer stärker sein als der Mensch. Man muss, um hier zu leben, ebensoviel Bescheidenheit wie Mut aufbringen. Für Menschen, die nicht in ihr gelebt haben, erscheint sie wie ein großer leerer Raum, während sie für uns unendlich lebendig ist. Wie diese Liebe erklären, die wir unserer so ausgedörrten und schwierigen Umwelt entgegenbringen?“[3]  

Aber vielleicht erfahren wir hier gar nicht die vordergründige Antinomie eines weltflüchtigen Ichs gegenüber der lebendigen Erfahrung des Wüstensohns, wenn wir Hugo Balls archimedischem Hinweis folgen: „Wenn in der inneren und äußeren Welt nichts mehr sicher ist, bleibt nur die Wüste.“[4] Bleibt uns in der „mentale(n) Diaspora der Netze“ nur noch die Wüste als paradoxe Mega-Oase? Jean Baudrillard beschreibt die Verflüchtigung des Menschen als einen Prozess, der nicht mehr dem Topos der aufhebbaren Verdinglichung des Menschen folgt: „Im 19. Jahrhundert war immer die Differenzierung des Subjektes um so höher, je tiefer es durch die Maschine, durch die Technik usw. entfremdet war. Je tiefer die Technik greift, desto tiefer ist die Empfindung des Selbsts des Subjektes als Entfremdetes. Aber jetzt mit der Informationstechnologie, mit den elektronischen Maschinen usw. wird das Subjekt aufgesaugt. Es wird verflüchtigt, hinein in den Prozess selbst. Früher war es verfremdet durch die materielle Alienation, aber jetzt wird es durch sein Gehirn, in seinem Gehirn aufgesaugt, und die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen verschwindet. Das ist, meine ich, das Wesentliche, diese Aufhebung der Grenze zwischen menschlich und unmenschlich.“[5] Richard Münch trifft also in seiner soziologischen Aufklärung nicht die ganze Radikalität des Ansatzes, wenn er Baudrillards Theorie der Medien-Hyperrealität nur als „aktuelle Version von Marx´ Entfremdungstheorie“ deutet. Karl Kraus hat diese Destruktionsdialektik Baudrillards ante litteram auf den besseren Endreim gebracht: „Das ist das wahre Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputt macht“. Maßgeblich verantwortlich für diese Diffusion und Destruktion ehedem eherner Konstruktionsbedingungen menschlicher Welterfahrung sind die Medien. Die fundamentale Unterscheidung von technischem „Code“ als medientypischer Kommunikationsform gegenüber dialogischer „Reziprozität“ als dem Gespräch von Menschen in Rede und Gegenrede folgt einem platonischen Modell, das trotz der vielfach beschworenen „Intelligenz des Bösen“ hartnäckig wider alle Strategien der perfiden Medienherrschaft nachgerüstet wird. „Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen.“ (Platon, Phaidros).  

Massenmedien, Telefon und Internet finden im Aufstand ihrer unendlichen Zeichen gleichermaßen keine Erhörung des Medientheoretikers. Jean Baudrillard gerierte sich in diesem Verdikt gegen die Zerstörung echter menschlicher Direktkommunikation von Rede und Gegenrede päpstlicher als die Diskurstheoretiker, deren Geltungsansprüche auch an der Eigensinnigkeit der Medien abprallen. Das technische Medium destruiere die echte menschliche Kommunikation. Eine typische Denkbewegung Baudrillards gegen diese Zerstörung lautet, die Medien selbst zu zerstören, was als marxistisches Theorierelikt eines Antimarxisten gelten kann – denn, wie er in einem frühen Text konstatiert: Wenn das Mietshaus brennt, reden die Nachbarn wieder miteinander. Sind wir nicht längst über dieses romantische Desiderat einer Kommunikation unter Anwesenden hinaus gekommen, die so kontingenten Umständen folgt und sich in Gesprächen über Brandversicherungen erschöpft? Nein, die mediale Verschaltung zu binären Supermonstern einer entfesselten „Kommunikations“-Wirklichkeit mache diese Situation noch schlimmer, da – verkürzt gesprochen – die Medien selbst die Antworten auf die Fragen präsentieren, den „response“ auf den „stimulus“ gleich mitliefern. Der Mangel dieser Theorie ist die Ausschließlichkeit der Beobachtung massenmedialer Effekte. Baudrillard verwandelt seine Analyse selbst dem medialen „Code“ an, der im eigenen Selbstgespräch die Antworten gibt, ohne die heterogenen Verwendungsweisen von Medien noch länger differenzieren zu wollen. Immerhin ist sein Authentizitätsverdikt gegen die Medien moderierend aufzunehmen, als die expandierende Informationsfülle, der wir stärker als in den vormaligen Zeiten des „Broadcasting“-Imperiums ausgesetzt sind, in der Tat paradoxe Wirkungen zeitigt:  

·       Information wird an Gegeninformation, Meinung an Meinung gebrochen, ohne dass dieser Widerstreit eine positive Dialektik oder gar einen Konsens eröffnet. Wir erleben eine Dissensgesellschaft, die oft erst dann handelt, wenn die Katastrophe eingetreten ist.

·       Medien fördern den wuchernden Hintergrundglauben, dass alles gleich-gültig ist. „Aktualität“ prägt die Ordnung von Nachrichten und Diskursen nicht nach Kriterien gesellschaftlicher Relevanz, sondern nach Aufmerksamkeit.  

·       Das Beharrungsvermögen des Subjekts gegen seine mediale Verflüchtigung ist geeignet, einen medialen Autismus zu begründen, was nicht nur dem Mythos kommunikativer Globalität zuwiderläuft, sondern auch pathologische Lebensweisen begünstigt.  

So ist etwa die Kommunikationslust per E-Mail und die vormals zweckfreie Netzbewegung als frühes Datendandytum stark gegenüber rein funktionalen Verwendungen des Medienkonglomerats „Internet“ zurückgetreten. Hier können wir Jean Baudrillards Beobachtungen aufnehmen, während andere „Wahrnehmungen“ des Theoretikers sich längst als ungenau oder gar falsch erwiesen haben: Seine digitale Bildtheorie, die einen breiten Raum im Werk einnimmt, reklamiert die ex-nihilo Konstruktion der digitalen Bilder. Ein referentielles Bild mit Negativ folge alten Konditionen, während das digitale Bild das Wahrheits-Schema von Ding und Abbildung auflösen würde. Seine letzten Ausführungen zum Exkurs über die Photografie gelten ihm sogar als „Mikromodell einer verallgemeinerten Analyse der Hegemonie“, des Zustand einer vorstellungslosen, alle Möglichkeiten ausreizenden Technik. Dass nun die Referenz der Bilder zur „Wirklichkeit“, dem gleichermaßen fetischistischen wie paradoxen Objekt dieses Denkers schlechthin, aufgelöst wird, ist schon im Blick auf die vordigitale Bildgeschichte unrichtig. Künstler schufen fortwährend referenzlose imaginäre Bilder: Wie anders entstanden Madonnen, Einhörner oder die unzähligen ornamentalen und freien Bildentwürfe ohne jede konkrete Provenienz in der „Wirklichkeit“? Digitale Bilder, so wie sie das Internet inzwischen unendlich überfluten, sind größtenteils referentielle Objekte, deren binäre Transformierbarkeit wenig am Objektglauben des Abgebildeten verändert. Nota bene: Man kann Bilder für inakzeptable Verflachungen des menschlichen Wahrnehmungskosmos halten, doch hier unterliegt Baudrillard in fataler Weise denselben Beobachtungsschwächen, die schon ältere Medientheorien obsolet gemacht haben. Denn die abstrahierten Momente, die Reduktion sinnlicher Eindrücke und die Vervielfachung der phänomenologischen Betrachtung – etwa wenn wir um einen Gegenstand herumgehen und ihn „begreifen“– erschließen sich der Analyse, sodass sich daraus nicht Täuschungen ergeben müssen. Gerade hier wäre der Theoretiker als (Medien)Phänomenologe gefragt, der erkennt, dass Wahrnehmungsmomente bei jeder Abbildung hinzugerechnet werden müssen und der gegen die Negation der Wirklichkeit sein (analytisches) Wissen und den sinnlichen Mehrwert der ihm bekannten Dinge addiert. Und weiter: Die Reduktivität der medialen Verfassung ist – wie immer – ein temporärer Zustand der Konstitution von Bildern und nicht weniger der symbolischen Verfassung von Wirklichkeitsbeobachtungen. Die magischen Kanäle verleiteten Jean Baudrillard dazu, Karl Marx auch in seiner semiotischen Neueinkleidung zu verlassen und insoweit Marshall McLuhan zu folgen. Die Abkehr vom klassischen Marxismus ist zwar plausibel, weil in dessen Fixierung auf Arbeit, Produktion und Wertschöpfung die Bedeutung medialer Veranstaltungen für die Verfassung der Gesellschaft ausgeblendet werden. Doch die mediale Magie könnte weiter reichen, als es irgendeine Theorie zulässt, die vornehmlich um die Behauptung menschlicher Wahrnehmungshoheit gegenüber dem allgegenwärtigen Spektakel kämpft. Das Internet produziert einsinnige reduktive Bildwelten, doch deren Medialität steht in einem unabsehbaren Kontext von Gegen- und Alternativwelten - ohne den propagandistischen Effekt zu erzwingen, dass nur manipulierte und konfektionierte Wahrheiten eine Chance auf Erhörung hätten. Menschen prozessieren Medien über die starren Grenzen ihrer jeweiligen Konstitution hinaus. Kein Bild ohne Kontext, keine Wahrheit oder Lüge ohne ihren Gegenpol. Unser Wissen erschöpft sich eben nicht in dessen „Wikipediatisierung“ (Peter von Brinkemper), sondern greift immer weiter aus und erweitert die medial-menschlichen Rekonstruktionen in zahlreichen Äußerungsformen, die mit dem unsauberen Verhältnis von kanonischen und apokryphen Wahrheiten zu leben lernen. Nebenbei bemerkt fällt diesem Medienprozess auch ein großer Teil der gegenwärtigen Medientheorie zum Opfer, etwa jener, die das Fernsehen gegen das Internet ausspielt und hier präsentisch-authentische und dort computergenerierte-technische Darstellungen zu erkennen glaubt. „Youtube“ und andere haben den medialen Unterschied zwischen den Einzelmedien bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Das Fernsehen ist längst tot, ohne es zu wissen. Jean Baudrillard hatte gestanden, nur einen oberflächlichen Zugang zum Mediumverbund „Internet“ zu haben, was ihn als Theoretiker einer Zeit ausweist, die vom Paradigma der Massenmedien klassischen Zuschnitts ausging, um zuvörderst zu ergänzen, dass binäre Welten „unnatürlich“ konstruiert seien. Die binäre Konstruktion hat für spätklassische Medientheoretiker wie Jean Baudrillard eine eigentümliche Faszination, die sich nicht durch die nichtbinären Erscheinungen binären „Seins“ irritieren lassen wollte. Auch insoweit wird kräftig an der immer länger werdenden Fußnote zum Platonismus (Whitehead) weiter geschrieben, was nichts anderes heißt, als das Wesen der Dinge mit der vorgeblich natürlichen Wesenhaftigkeit ihrer Konstruktion gleichsetzen zu wollen. Schlechte Zeiten für Künstler und Programmierer. Es herrscht in diesen Ansätzen das älteste Dilemma des Idealismus, es gäbe einen wahren Weg der Weltkonstruktion, der in allen Entfernungen zur ursprünglichen Natur, vor allem in der unmenschlichen Herrschaft bloßer Berechnung verraten würde. Lässt sich aus dieser ältesten Differenz noch etwas lernen für die Frage, was eine gewitztere Theorie diesseits der Medien leisten könnte? „Simulation“, das transgressive Zauberwort Baudrillards, meint nichts anderes als die Austauschbarkeit aller großen Unterscheidungen bzw. binärer Codierungen wie „Wahrheit/Unwahrheit“, Schönheit/Hässlichkeit, linke/rechte Politik, ja sogar Natur/Kultur – wobei nicht immer eindeutig ist, ob hier nur die Differenzverluste auf der Ebene der Zeichen gemeint sind oder weitergehend die Auflösung des menschlichen Unterscheidungsvermögens überhaupt betroffen ist. „All unsere Werte sind nur Simulationen. Was bedeutet Freiheit? Dass wir die Wahl haben, das eine Auto zu kaufen oder das andere. Das ist eine Schein-Freiheit.“[6] Diese nicht gerade originelle Behauptung, die zum Altbestand der klassischen Kritik konsumistischer Gesellschaften gehört, die nur noch eine pseudodemokratische Herrschaftsfunktion zulassen, kapituliert vor der Komplexität der Verhältnisse, die einen einfachen Freiheitsgestus, eine ein- und eigensinnige Revolte, ein fröhliches „Phantasie an die Macht“ heute noch leichter abfedern als bereits 1968. Das Problem, das in der Homogenisierungsmaschine dieser Theorie verschwindet ist, ist das hybride Nebeneinander von Werten und Wertdemontagen, die Provokation eines theorieresistentem „Realen“, das sich gegen elegante Theorien sperrt.  

Jean Baudrillard erscheint uns retrospektiv als der genuine Mediendandy, immer plakativ und so telepräsent wie einprägsam in seinen Macht- und Schlagwörtern gegen die „Wüste des Realen“: Das Reale ist die Welt der Wahrnehmung durch den Menschen. Der Schein ist die Welt, wie sie ist. Im „Hyperrealen“ löst sich die Welt von der Wahrnehmung des Menschen. Der Mensch wird in Zeiten der Virtualität nicht mehr als Vermittler zwischen den Dingen und ihren Zeichen benötigt. Die Welt emanzipiert sich von ihrem bislang genialsten Prozessor. "Warum ist nicht alles schon verschwunden" heißt im Klartext, dass die Kategorien in ihrer Bedeutung verblassen, aber der Denker keine Erklärung für die Wirklichkeit mehr besitzt und das Unternehmen einstellt. Dieser letzte Text Baudrillards fasst seine Theorie noch einmal zusammen und ist vorzüglich geeignet, die Grundmotive seines Denkens im Holzschnitt kennen zu lernen.  

Baudrillard Medien GespensterWas nicht nur dieser Theorie abhanden kommt, ist die Verschlagenheit der Wirklichkeit, die eben nicht einfach in plane Virtualität übergeht, so wenig alte Werteordnungen konservierbar oder in fatale Strategien überführbar sind. Wir erleben weiterhin eine „Unübersichtlichkeit“ der Verhältnisse, die der Theorie und ihren Mitteln spottet und auch auf die List der Vernunft nicht mehr baut - was sich unter anderem im wachsenden Neben- und Miteinander heterogener Weltentwürfe niederschlägt. Jean Baudrillard war enttäuscht von der ehedem großmächtigen Theorie, die eben den Schritt mit der Wirklichkeit nicht mehr halten konnte, was nur in einem überheblichen Theorieglauben selbst zur Signatur der Wirklichkeit wird. Das Problem ist nicht der Sog der „Simulation“, die jede Wirklichkeit erfasst, sondern das paradoxe Wechselspiel von Wahrheiten und Manipulationen, die auf keine oberste Rechtsprechungsinstanz wie die kantische Vernunft oder den herrschaftsfreien Diskurs vertrauen können. Gerade die neokonservative Realpolitik hat die Werte, auf die sich Bush und die Seinen beriefen, gegen diese selbst mobilisiert, was immerhin - wider Baudrillard gesprochen - für moralisch leidlich intakte Reaktionen spricht – so wenig Obamas „Yes, we can“ schon zureichende (Er)Lösungen parat halten würde. So sind diese trägen bis unberechenbaren Öffentlichkeiten respektive Gegenöffentlichkeiten längst nicht sensibel genug, Manipulationen so frühzeitig zu erkennen, dass Opfer vermieden werden. Das Wechselspiel zwischen Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit hat sich aber auch nicht in der digitalen Planierung der Wahrheit erledigt, wie es das „Wirklichkeitsrequiem“ Baudrillards behauptet. Die Konditionen sind andere, die vermutlich nicht erst in der Theorie formalisiert werden können, wie es das narzisstische Welterschließungsmodell von Denkern mancher „couleur“ verlangt. Baudrillard erscheint uns in diesem Theorie-Spiel als die illustre Figur einer verblassenden Epoche der allmächtigen Kritik, die auf die Transparenz und Transzendenz der Verhältnisse zielte und dabei selbst so transparent und unwirklich in ihrer Erkenntnisungeduld wurde – bis sie sich auf den Gespenster-Status zurückzog, der nicht mehr so fröhlich-ironisch wie weiland im „Kommunistischen Manifest“ formuliert werden kann.  Dieser Diskurs des Verschwindens riskiert nolens volens seine eigene Auflösung, weil die Begriffe, die er weiterführt, mächtige Widerstände gegen virtuelle Konstruktionen begründen. Auch Cyberleiber können schön oder hässlich in einem klassischen Sinne wahrgenommen werden, so wie die Begriffe einer fragilen Wahrheit oder schwachen Theorie („pensiero debole“) nicht desavouiert werden, wenn Platons Sonne nicht mehr im Zenith steht. Zentral und fatal wurde für Baudrillard das von Friedrich Nietzsche aufgeworfene Problem, wie der Schein das Sein ist, wenn doch zugleich diese Unterscheidung in den transzendentalen Bedingungen des Erkennens unhintergehbar angelegt erscheint. Die ehernen Unterscheidungen lösen sich im „Hyperraum“ auf, doch die  Abwesenheit alter Sicherheiten wie Gott, Sein, Vernunft macht die Verhältnisse ungemütlich. Jean Baudrillard kämpfte wie weiland Don Quichotte gegen die Riesen, die man heimlich lieben muss, wenn sie nicht aufhören sollen zu existieren. Oft wird übersehen, dass dieser kapriziös auftretende Ansatz nur aus dem humanen Impetus dieses Philosophen erklärbar ist. Der Druck dieses Denkens liegt darin, dass die alten Spannungen solches Denken erst möglich gemacht haben. Baudrillard erkannte allerdings, dass diese alten Sicherheiten selbst immer nur Illusionen waren, so mächtig sie sich auch in den philosophischen Diskurs einschrieben. „Zwar gibt es im Innern dieser Welt durchaus ein Erkenntnis- und Denksystem, das so etwas wie Wahrheits- und Wirklichkeitseffekte produziert. Aber ich finde es wichtig, dass die Philosophie diese radikale Unsicherheit und Illusion immer im Hinterkopf hat. Man muss sich vor der Wahrheit hüten.“[7]  Die Welt Baudrillards hat ihre Erdungen und archimedischen Sicherheiten verloren: „Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie noch nicht ist. Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb, weil er verschwunden ist. Wenn ich von einem Menschen spreche, dann deshalb, weil er schon tot ist.“[8] Baudrillard bewegt sich damit auf dem gefährlichen Boden, dass die Wirklichkeit unwirklich und der Mensch tot ist und doch die Bühne wieder aufgezogen werden muss, um nun die Totgeglaubten wieder zu sehen – und vielleicht zu retten. Er spielte mit der Welt der alten Unterscheidungen wie ein Kind, das das Feuer sucht, weil Angst und Lust ununterscheidbar werden. Sein elegischer Spätdiskurs ist einer der in der Beobachtung des Verschwindens der menschlich wahrgenommenen und interpretierten Welt auch selbst verschwindet. Die Begriffe wurden auf ihre Spitze und darüber hinaus getrieben, wo sie ihren Gehalt und ihre Anschlussfähigkeit einbüßten – was auch der relativen Isolierung Jean Baudrillards im Wissenschaftsbetrieb entsprach. Der Schauspieler, der er auch war, räumt die Begriffsrequisiten nach der Vorstellung weg, die wir vormals für real gehalten haben. Es bleibt eine leere Bühne, was – nebenbei bemerkt –Baudrillards Nähe zu diversen Denkern und Künstlern der französischen Mentalitätsgeschichte nach dem Krieg demonstriert. Energietechnisch und wohl auch biografisch ähnelt diese Theorie einer Supernova, der Stern wird immer heller und reißt sich selbst in den Tod. Mit einem solchen Impetus des „ens realissimum“, um nicht von Wirklichkeitswut zu sprechen, wird jede Theorie selbstwidersprüchlich, weil sie den Gegenstand ihrer Betrachtung, den sie vernichtet, schließlich doch wieder fingieren muss. Baudrillard hat das auch explizit eingeräumt, ja sogar eine Theorie-Volte daraus gemacht, die freilich das Wesen der Theorie als Anschauung destruiert: „Die Theorie muss ihrem eigenen Schicksal selbst vorgreifen. Denn sie muss für jeden Gedanken unwägbare künftige Zeiten in Betracht ziehen. In jedem Fall ist sie der Verdrehung, der Irreführung und der Manipulation geweiht. Es ist also besser, wenn sie sich selbst verdreht (se détourner elle-même), wenn sie sich von sich selbst abwendet (se détourner dellemême).“[9] Eine Theorie, die so überlegen auf der Bühne des Denkens agieren will, kann sich letztlich nicht behaupten, weil sie die zwingenden Konditionen ihrer eigenen Zeitlichkeit in Abrede stellen will. Gott (oder Leibniz) mag eine solche Supertheorie prästabilierten Wissens vorbehalten sein, andere Theoretiker geraten in einen unendlichen Rückgriff der Wahrheit, deren vorläufige Ergebnisse immer wieder zurückgenommen werden müssen – weil der blinde Fleck der Beobachtung nicht durch puren Willen aufgelöst werden kann. Das ist wahrlich eine fatale Strategie, weil sich die Theorie im Wege ihres Vollzugs auflöst und selbst das „Requiem“ leer wird, weil es nichts mehr zu betrauern gibt. „Wir haben diesen Vorsprung der Ideen vor der Welt verloren, diese Distanz, die bewirkt, dass eine Idee eine Idee bleibt.“[10] Witzig mag erscheinen, dass die nun bankrotte Theorie hier ihrem vormaligen Unwirklichkeitsstatus nachtrauert, den sie gleichzeitig den Medien als genuines Weltverhältnis aberkennen will. Baudrillards Theorieexistenz ist die Geschichte der Selbstentmachtung des Theoretikers, was einerseits die Bedingtheit theoretischer Welterschließung erweisen könnte, andererseits aber auch einen übertriebenen Theoriegestus anzeigt, der sich von „theorein“ emanzipieren wollte, um die endgültige Wahrheit der Wirklichkeit als Betriebssystem ohne laufende Nummer vorzuinstallieren. Wir dagegen beklagen weniger die um uns wuchernde „Hyperrealität“, die eher als eine Idiosynkrasie Baudrillards verbucht werden muss, als die Bodenhaftungsverluste nicht nur dieser Theorie, die den instrumentellen Charakter einer provisorischen Wirklichkeitsabstraktion aufgibt, um ihrem eigenem schönen Versprechen einer „Schau des Göttlichen“ zu erliegen. So träumt Baudrillard in seinem letzten Text von göttlichen „Abziehbildern“ wie dem Schweißtuch der Veronika und lobt die antike Kritik an den bloß von Menschenhand gefertigten Ikonen. Der Theoretiker der Verführung erlag selbst der Verführung durch die Theorie – was deutlich macht, dass die Verführung nicht lediglich eine subversive Strategie ist, sondern auch reale Opfer macht. „Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (Markus-Evangelium 1,12 f.). Als Jean Baudrillard in jene andere, gleichfalls erfolgreiche Erlösergeschichte der „Matrix“ eingebunden werden sollte, beschied er die Wachowski-Brüder auf die Unmöglichkeit einer bildschöpfenden Welt des Hyperrealen: „Diese Leute halten die Hypothese des Virtuellen für einen tatsächlichen Zustand und verwandeln sie in ein sichtbares Phantasma. Aber die Besonderheit dieses Universums besteht gerade darin, dass man die Kategorien des Realen nicht mehr benutzen kann, wenn man darüber sprechen will.“ Ist der Rest also Schweigen? Nein, auch der scheinbar so zwangsläufige Tod von Theorie und Theoretiker ist eine paradoxe Kondition: „Das Ende selbst ist verschwunden…“ So lautet der letzte veröffentlichte Satz Baudrillards. Sollte aber diese Matrix der etwas anderen Art auch den Tod entsorgt haben, was uns ohnehin als der älteste Anlass der Philosophie erscheint, müssen wir mit Jean Baudrillards Wiederauferstehung rechnen.  

Goedart Palm



[1] http://www.egs.edu/faculty/baudrillard/baudrillard-ich-habe-einen-traum.html

[2]  „http://www.egs.edu/faculty/baudrillard/baudrillard-ich-habe-einen-traum.html

[3] Zitat aus dem Buch „Geboren mit Sand in den Augen“ des Tuaregführers Mano Dayak unter: http://www.elmida-wuestenreisen.de/philosophie

[4] Hugo Ball, die Flucht aus der Zeit, 1946, S. 277.

[5] "Es gibt nur noch Effekte und gar keine Ursachen mehr" - Der reine Terrorismus - Jean Baudrillard im Gespräch mit Eckhard Hammel, in: Eckhard Hammel; Rudolf Heinz; Jean Baudrillard: Der reine Terror. Gewalt von rechts, Wien 1993, S. 47-58

[6] „Frankreich ist nur ein Land, Amerika ist ein Modell.“

Jean Baudrillard Interview vom 23.11.2005, in: Süddeutsche Zeitung, unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/736/407512/text/

[7] "Man muss sich vor der Wahrheit hüten", taz-Interview vom  22.11.2000   Unter: http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2000/11/22/a0119

[8] Jean Baudrillard, Warum ist nicht alles schon verschwunden, Berlin 2008, S. 5.

[9] Jean Baudrillard, Das Andere selbst, Wien 1987, S. 78.

[10] Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München 1996, S. 157f.

 

 

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