Am Anfang war die Zerstörung. Glauben wir der Thermodynamik,
läuft die Welt aus dem Ruder, geradewegs ins Chaos, trotz aller Bemühungen einer
ordnenden Vernunft. Vom Urknall zur Gleichverteilung der Masse. Das klingt nicht
konstruktiv. Picasso konstatierte, daß ein Bild die Summe seiner Zerstörungen
sei. Das mag man als Ausdruck eines destruktiven Charakters nehmen, wenn nicht der
Künstler offensichtlich zu den produktivsten Schöpfern gehört hätte. "La
guillotine est le chef-d´oeuvre de lárt plastique" (Blaise Cendrars). Was
wäre, wenn das Anfangsprinzip unseres Weltverhältnisses Zerstörung wäre? Gehört zu
jeder Konstruktion Zerstörung, mindestens als imaginärer Überschuß? Wem eine Skulptur
gelingen will, muss ein gerüttelt Maß Aggression gegen den verbergenden Stein
mitbringen. Zerschlagen, um zu schöpfen. Sind wir auch die Produkte einer Zerstörung?
Warum Philosophie? Der Ehrgeiz von Denkern, die Welt zu enträtseln, stützt
sich auf moralische Gründe. Die Welt, den Menschen zu verbessern, den Lebensunterhalt zu
verdienen, ewig zu leben. Der Denker läßt sich apriori auf ein dienendes Weltverhältnis
ein. Selbst die großen Verweigerer geben Gründe für ihre Ablehnungen. Warum schreiben Cioran
oder Celine? Sind sie weniger affirmativ als die Psalmisten? Wer redet davon, von
dieser Welt eingespannt zu werden, für sie zu arbeiten, in seinem Potential ausgebeutet
zu werden? Wer leistet Widerstand gegen die Obsession, alles zu verkünden? Gibt es
Weltweise, die nur aus pragmatischen Gründen, aktuell und instantan reagieren, ohne ein
"back up" ihrer sämtlichen Gedanken zu geben? Welcher enzyklopädischer Eifer
bei Kant oder Hegel, alles zu sagen, was man weiß, ja es erst zu wissen,
während man es sagt. Oblomow brächte es nicht über´s Herz, alles
aufzuschreiben, was er weiß. Warum all diese Mühe?
Spät. Man weiß erst spät, was man weiß - leider kann man es oft nicht sagen.
So werden die anderen nichts davon haben.
Jenseits der Philosophie. In der Schrift antworten wir auf das sprachgewordene
Ungenügen an der Welt, an stammesgeschichtlich konditionierten Deutungsmustern, die keine
individuelle Lebenszeit in einer entzauberten Welt mehr durchstehen. Ist nicht alles
Ungenügen an der Philosophie immer zuvörderst die servile Referenz an das Allgemeine,
während ihr gegenüber die Literatur, das Besondere, ein blasser Schatten der Welt
bleibt? Und ist nicht alles Besondere, ewig signiert im Eigennamen, eine unerlöste Schuld
alles Seienden, ohne Hoffnung auf Wiederkehr? Aus dieser ungesättigten Dichotomie der
Wahrheit speist sich eine Spannung, die in der Philosophie bis heute nicht abgearbeitet
wurde. Hegel, der an und für sich das Programm der Philosophie des sich entfaltenden
Weltgeistes für weitgehend abgeschlossen hielt, hat uns wider die Methode zu dem Glauben
an das Absolute, an die inzwischen von Astrophysikern gesuchte Weltformel verleitet. Aber
die in der Dialektik verdinglichte Differenz rettet sich nicht in der evolutiven Aufhebung
in das Absolute: Auschwitz ist keine Wartehalle zum Paradies! Nur wenn das Absolute
rückgewendet wird auf einen Anfang, d.h. das Absolute im Anfang hypothetisch gedacht
wird, werden wir vielleicht die Kraft haben, alles so zu nehmen, wie es ist. Nicht weil
das Wirkliche das Vernünftige ist, sondern wider jede Vernunft das Wirkliche bleibt. Es
geht um nicht mehr oder weniger als das in aller Identitätsphilosophie Unterschlagene,
die unerlösbaren Zu-Fälle der Welt, die sich hinter dem Allgemeinen als evolutionäre
Zwischenstücke konstruktiver Notwendigkeiten tarnen.
Täuschung. Singularitäten, radikal gedacht, sind nicht der Stoff einer
Theodizee wider die Vielheit. Ihre Präsenz wartet im Zuge einer transzendendalen
Reduktion nicht auf die Erlösung, weil jede Erlösung der Existenz des Einzigen
widerstreitet. Unterliegen wir nicht der Selbsttäuschung, das unabgeschlossene Programm
der abendländischen Transzendentalphilosophie zu retten. Das Existenzurteil des Augustinus
"Wenn ich mich nämlich täusche, bin ich" könnte zu dem strategischen Spielzug
werden: Wenn ich nämlich täusche, enttäusche ich mich selbst. Das ist mehr als das
postmoderne "als ob", das nur die entidealisierte Wahrheit zur Seite ihres
aufdringlichen Scheins als Effekt sichern will.
Virtuelles Selbst. Das nach Augustinus von Descartes auf den
angstvollen Höhepunkt getriebene Cogito-Prinzip des verdrängten Selbstzweifels weicht
heute dem Antiprogramm der libidinösen Auflösung des Selbst im Virtuellen. Wenden wir
den existenziellen Selbstzweifel gegen diesen selbst, um das Selbst von der
terroristischen Apologetik der Existenz zu befreien. Das Spiel einer Fälschung, die
nichts außer der Schrift kennt, kann nicht bei der Schrift stehen bleiben.
Endreim. Wir haben gelernt, uns einen schnellen Endreim auf die Dinge und
Verhältnisse zu machen, um die logischen Skandale hinter philosophical correctness zu
verbergen. Aber wie Kinder, die mit der Entropie ihrer Spielzeugkiste nicht fertig werden,
entfalten sich uns die schlecht verräumten Dinge zum unbegreifbaren Eigenleben. Sie
treiben zur Seite ihrer Begriffsstutzigkeit seltsame Blüten: Blaue Blumen, Tulpen, die in
ihrer Zweckmäßigkeit doch zwecklos bleiben, apokalyptische Rosen...des fleurs magiques
bourdonnaient. Nicht der eilfertige Syllogismus, nicht die geschmeidige conclusio lösen
das Rätsel des Bewußtseins von sich selbst. Allein die Methode der Durchkreuzung von
nicht signifiziertem Terrain, eine Antimethode, die permanent hintertrieben werden muß,
um nicht den verlassenen Zentren, den erloschenen Vulkanen der abendländischen
Großerzählungen, zuzuarbeiten.
Alles. Verführung für Imperatoren aller Art. Wenn es aber gar nicht
"alles" gäbe, sondern nur "etwas".
Derivate. Die historisch-dialektische Selbstentfaltung des Geistes als
einheitsstiftendes Erklärungsprinzip von Welt hat abgedankt gegenüber der Emanzipation
der ungezählten Differenzen jenseits ihrer identitären Fassung. Denis Diderot war
der Auffassung, daß die absolute Unabhängigkeit einer einzigen Tatsache unvereinbar mit
der Idee vom Ganzen ist, und ohne die Idee vom Ganzen gebe es keine Philosophie mehr
(Gedanken zur Interpretation der Natur). Aber noch ist es uns geläufig, mit getarnten
Derivaten metaphysischer Betrachtungsweisen das Erkenntnisgeschäft zu betreiben. Dieses
Schema erschöpft sich nicht in der Rasterfahndung der metaphysischen
Unterwanderung der
Wissenschaften. Vielmehr sind wir alle ständig eingebunden in ein Korsett der Ableitung
von ersten Prinzipien, ersten Ursachen und vorrangigen Bezugssystemen letztere als
Paradigmen stilisiert. Jeder Leser, weniger als einen Steinwurf von der Schrift entfernt,
mag spüren, in wievielen Ableitungshierarchien gedacht wird, die die Mauern einer
kategorialen (Un)Vernunft umgeben. Längst ist es klar, daß die oftmals im Gewand des
aufgeklärten Denkens getarnte Metaphysik einen hohen Preis an ihre unversöhnlichen
Ideale entrichtet.
Brav. Immer brav und zumeist kostenlos der Schöpfung auf die Sprünge geholfen.
Philosophen, auch die kritischen, sind Erfüllungsgehilfen eines unbekannten Meisters.
Zuletzt sind sie alle affirmativ, selbst de Sade, der seine häßlichen Träume von
der Schöpfungszerstörung pflegte. Zuarbeiter einer Welt, die den Widerstand sucht, um
stärker zu werden.
Transzendentalfiktion. In der Philosophie kann man nicht die Philosophie
transzendieren.
Apologetik. Die Geschichte der Inhumanität schrieb sich immer vor dem
Rangfolgestreit abstrakter Prinzipien fort. Von der Inquisition über Ausschwitz bis zu
den zeitgenössischen Terminatoren handelt es sich immer um eine Apologetik im Sinne des
reinen Ersten und des unreinen Zweiten. Ableitung wie Abspaltung sind die schizoid-rigiden
Vermeidungsmuster einer dialektischen Rationalität, die in die Inhumanität abstürzt.
Manifestation. Es gibt unendlich viele Menschen, von denen uns die Geschiche
nichts anderes berichtet als die Tatsache, dass sie gelebt haben (d'Holbach, System
der Natur). Foucault hat dieses Schicksal der Macht und dem Subjekt prophezeit. Der
Dekonstruktivismus verordnet es der Metaphysik und ihren Derivaten. Aber auch der
Dekonstruktivismus höchstselbst wartet auf seine Dekonstruktion.
Kant reconstructed. Der Vernunftbegriff der kommunikativen Rationalität ist nur
um einen linguistic turn von dem Vernunftbegriff Kants entfernt. Soweit sich der
Kognitionsethiker Habermas auf die formal-ethische Intuition des kategorischen
Imperativs Kants stützt, führt er den größten Teil der hypothekarischen
Altlasten aus Königsberg mit sich. Kant, dem Habermas
sprachanalytisch auf die Sprünge hilft, hat die Erkenntnissituation als Gerichtssituation
paradigmatisiert. In diesem Prozess ist die Natur der Angeklagte und die Vernunft der
Richter. Gegenüber der Natur legt die Vernunft die Sprache des Diskurses fest. Was dieser
Rechtssprache nicht gehorcht, existiert nicht. Ist der Verstand der Gesetzgeber der Natur,
der Quell der Gesetze der Natur, so manifestiert sich darin nicht nur die Verdrängung der
gesetzeswidrigen Natur. Nein die Kategorialität des Juridischen, die Herrschaft des
Gesetzes wie des Gesetzmäßigen prägt den Verstand und die auf diesen reduzierte
Vernunft. Auch wenn der voraufklärerische Schöpfergott durch einen kritischen
Richtergott (Waldenfels) abgelöst wird, ist der nicht weniger blind als Justitia
selbst. Die Verschränkung von Gesetz und Vernunft ist auch das Apriori der diskursiven
Rechtstheorie. Die Fatalität dieser Beziehung liegt in der Verkennung des Zusammenhangs
von Freiheit und Gesetz. Das Gesetz als selbstgewählte Maxime des aufgeklärten Bürgers
gründet auf einem reduzierten Freiheitsbegriff. Freiheit gilt danach als die
gesetzmäßige Selbstbeschränkung des vernünftig Handelnden. Das vernünftige Gesetz wie
die gesetzmäßige Vernunft fassen Freiheit als ein sozial verfasstes Prinzip des
vernünftigen Miteinander. Das selbstgesetzte Gesetz erschöpft aber nicht das Potential
der Vernunft. Das Andere der Vernunft lässt naturwüchsige Freiheit und gesellschaftliches Gesetz in einer heteronomen Beziehung erscheinen. Den
Selbstwidersprüchen des nicht erst in der Postmoderne disparat konstituierten Individuums
kommt noch keine praktische Vernunft bei. Das Gesetz repräsentiert das systemische
Selbstinteresse, das zwar mitunter durch den Diskurs der Subjekte vermittelt doch nicht
deckungsgleich mit der Interessenstruktur des Einzelnen ist. Der Spannung zwischen
öffentlichen Interessen und privater Autonomie wohnt auch nicht die Spannung von
Faktizität und Geltung inne. Wer das Gesetz nicht zugleich als Antithese der Freiheit
gelten läßt, verpflichtet das Subjekt auf die Über-Ich-Struktur einer gefesselten
Vernunft, einer Vernunft, die dem systemischen Interesse dient. Die Diskurstheorie des
Rechts als Unterfall der Theorie des kommunikativen Handelns hat mithin die idealisierte
Selbstbeschneidung des Subjekts zur Voraussetzung. Nicht die Protagonisten des
organisierten Verbrechens, die Apologeten der modernen Religionskriege oder die Dogmatiker
des nationalistischen Massenwahns figurieren als die Kronzeugen der Anklage. Das in den
katastrophischen Weltprozess eingebundene Subjekt selbst stellt den Ankläger in der
kommunikativen Theodizee der Vernunft. Besser geworden, das weiß Habermas
vielleicht inzwischen selbst, besser geworden, ist nichts.
Philosophie der Lebenskunst. "Just what is it that makes today´s homes so
different, so appealing?" lautete die Frage von Richard Hamiltons frühe
Popcollage zu den Lebensentwürfen der Warenwirklichkeit, die keine wahre Wirklichkeit
mehr kennt. Nicht nur in den medialen Schlinggewächsen von Fernsehen, Werbung und
instantanem Wissen sind die Grundfesten der Existenz in gefährliche Wallung geraten.
Wurde das vormals so selbstgewisse Subjekt der Aufklärung in der Entzauberung der Werte,
in der Dialektik der Aufklärung in seinem aufrechten Gang verunsichert, stolpern wir,
haltlose Zeitgenossen, in der Beschleunigung einer digital vernetzten, virtuellen und
katastrophischen Weltgesellschaft in immer neue Fallen unseres fragilen
Weltverhältnisses. Die müden Zeitgeister reagieren mit "Anything goes", der
lakonischen Blankovollmacht in Philosophie, Kunst, Wissenschaft, aber auch für die
zeitgenössische Existenz in allen übrigen Facetten. Zugleich gilt das Paradox, daß oft
gar nichts mehr geht, weil die freie Konvertierbarkeit der Wahrheiten und Werte das
Subjekt orientierungslos flottieren lässt. "Wie lebt man also?" lautet die
kategorische Frage der späten Moderne, auf die kein eilfertiger Imperativ mehr
kategorisch antworten will. Die Philosophie kann sich nicht länger hinter ihrem
Kathederwissen für müßige Peripatetiker verschanzen, wenn sie eine raison d´etre für
den rasenden Zeitgenossen nachweisen will. Wir vertrauen nicht länger auf behäbige
Systemwelten, die das Wirkliche als das Vernünftige ausgaben, noch weniger auf negative
Dialektiken, die dem Bestehenden quittierten, die falschen Verhältnisse zu sein. Es mag
kein richtiges Leben im falschen geben, aber es gibt kein anderes. Die philosophische
Anstrengung zielt darauf, ein anderes Denken und demgemäß gewitztere Seinsweisen zu
entwickeln - Philosophie, Kunst und Alltagsleben verschränkend, immer eingedenk der
unbequemen Einsicht Nietzsches, dass man zugrunde geht, wenn man zu den Gründen
geht. Mit anderen Worten: Nicht nur im Regenwald, auch in der Philosophie wird ab jetzt
Alarm geschlagen, um zu retten, was zu retten ist. "Sauve qui peut" gilt nicht
nur im Anblick des seine Grenzen sprengenden Globus, sondern auch gegenüber dem Ozonloch
der Philosophie selbst. Das ist uns kein zukünftiges Wissen Zarathustras mehr,
sondern Alltags(ge)wissen geworden. Philosophie der Lebenskunst knüpft an die besseren
Restposten der abendländischen Philosophie an, um das fruchtbar werden zu lassen, was
nach der Demontage der Werte, der Wahrheit und damit der Philosophie selbst übrig
geblieben ist. Das ist alles andere als eine postmoderne Konkursmasse, die zur
Befriedigung der ungläubigen Gläubiger nicht mehr ausreicht. Längst sind in der
ökologischen Drohgestalt der Erde, der gentechnologischen Manipulierbarkeit von Mensch
und Natur, der Virtualisierung von Raum und Zeit Phänomene der Weltveränderung
aufgetreten, die noch radikaler in die menschliche Konstitution eingreifen, als es
klassische Angriffe auf die menschliche Zentralperspektive vermochten. Platons
Höhle erscheint kommod gegenüber den Verheißungen und Gefahren einer entfesselten
Technologie, die sich imperialistisch und menschenvergessen in Welt und Welten
einschneidet. Das postteleologische Modell einer reflektierten Lebenskunst folgt der
Ästhetik der Existenz, die zur Ethik des selbstbestimmten Lebens aufschließt. Mit der
Ästhetik der Existenz werden prämoderne und "andersmoderne" Techniken der
Sorge um sich selbst, die prämeditatio malorum, Ironie, Maß, Gelassenheit etc.
wiederentdeckt. Philosophie der Lebenskunst will gleichwohl alles andere als das Vademecum
eines glücklicheren Lebens sein. Nicht nur Kant und Foucault hegten
wohlbegründete Zweifel gegenüber dem Glückseligkeitsanspruch der menschlichen Existenz.
Wider der uneingelösten "promesse de bonheur" werden Techniken unabdingbar, mit
Leid und Leidenschaften, Zufall und Kontingenz, Alter, Krankheit und Tod umzugehen. Aber
wir wissen auch um die "purpurnen Stunden" (Oscar Wilde), ewige
Augenblicke, dionysische Lüste, die untrennbar den Fährnissen der Existenz verbunden
sind. So bleiben die Grunderfahrungen menschlicher Existenz der Reflektionsstoff
praktischer Philosophie, neu aber sind die Gestalten der Katastrophen, der
unübersichtlich gewordene Zusammenhang von individuellen und kollektiven Heils- sowie
Unheilsgeschichten. Philosophie der Lebenskunst bescheidet sich nicht in der
Selbstvergessenheit der Weltflucht, sondern avanciert zum selbstkritischen
Vermittlungsmodus von Individuum und Gesellschaft, zu einer politischen Veranstaltung des
Selbst aus dem Geist des Anderen. Auf der Bühne des menschlichen Katastrophentheaters
erscheint somit der Vorschein eines neuen Selbst - mit sich trotz seiner Widersprüche
identisch, ein Durchzugsfeld gesellschaftlicher Energien, eine polyphone Stimmung, die
gleichwohl nicht auf Kohärenz verzichtet. Kein Subjekt einer wohlversicherten Identität,
sondern eine multiple, aber gesunde Persönlichkeit gilt es zu entwerfen. Keine
transzendente Rückversicherung, sondern eine ethisch-asketische, säkulare Seinsweise ist
zu entwickeln, die sich gleichwohl den Luxus gestatten kann,
"quasi-transzendental", lustvoll, aber auch gleichmütig zu sein. Nur so kann
Lebenskunst auf die Zumutungen immer neuer Katastrophenüberbietungen reagieren. "Der
Einzige und sein Eigentum", wie ihn noch Stirner wider den Untergang des
selbstgewissen Individuums beschwören wollte, sind tot. Wer wissen will, wie in der
Spätmoderne gelebt werden kann, wird seine eigene Existenz als nichtarchimedisches
Experiment begreifen, wird seine Gewohnheiten immer wieder auf den Prüfstand schicken und
auf ihnen wie auf einer Klaviatur des besseren Lebens spielen. So stellte einer der
größten Selbstsucher der Moderne Paul Valéry fest: "Das Ich ist mein
Instrument. Ich spiele auf mir sehr unterschiedliche Melodien." Alte Frontstellungen
der Philosophie, Selbst und Anderer, Identität und Entfremdung, Individuum und
Gesellschaft, kollabieren. Auch wenn nichts mehr verlässlich ist, heißt das eben nicht,
dass der Mensch verlassen wäre. Wir beobachten die Geburt des Selbst aus dem Geist des
Anderen, so dass gegenüber den ausklingenden Eruptionen der Postmoderne, die nur noch ein
Gelächter für den abendländischen Rationalismus übrig hatte, eine andere,
verantwortlichere Moderne zu konzipieren ist. So kann man erst wieder autonom werden, wenn
man begreift, daß Autonomie den Untiefen des Lebens unterworfen bleibt. Der
spätaufgeklärte Lebensstil antwortet auf die Globalisierung der Verhältnisse mit
Selbstreferenz. Nicht auf den hypertrophen Bildschirmen der "Welt da draußen",
sondern auf den inneren Monitoren werden die Bilder geformt, die die Welt bestimmen. Sorge
um sich selbst heißt nicht erst seit heute Sorge um den Anderen, Sorge um die
Weltgesellschaft, weil ab jetzt kein Sein mehr behaupten kann, von dem anderen unabhängig
zu sein. Nicht länger private Gärten sind zu pflegen, sondern die Erde als Garten am
Rande des Abgrunds avanciert zum Handlungs- und Sinnhorizont des seiner Widersprüche
bewussten Individuums. Weder die verblichenen sozialistischen Paradiese noch der Garten
Eden können als Leitmotive der Lebenskunst dienen. Ob es denn überhaupt ein Garten
bleibt, vermögen nur die zu bestimmen, die begreifen, dass die planetarische Existenz mit
den individuellen Lebensentscheidungen des allseits vernetzten Zeitgenossen, seinen
kleinen Handlungen bis hin zu Haushaltsführung, Abfallentsorgung und Kleidung untrennbar
verkoppelt ist. Das Arsenal der großen Gesten, philosophia perennis, Volk und Vaterland
sind ausge(t)räumt. Weder das kollektivierte Individuum der Massengesellschaft, die sich
spätestens im Internet mit unübersichtlichen Sender-Empfänger-Verhältnissen auflöst,
noch die klassische Staatsräson im Vertrauen auf die gute Politik können uns als
Remedien gegen die "katastro-phile" Verfassung der Welt dienen.
Menschheitsräson, Druck von unten auf die Weltgesellschaft, die nicht länger ethnisch
oder national gefasst werden kann, werden gegenüber den Provokationen einer aus den Fugen
geratenen Welt notwendig. In dieser Horizonterweiterung, aufgezwungen durch eine rasende
Gegenwart, die immer schon Zukunft sein will, werden antike und prämoderne Lebenskonzepte
revitalisierbar, weil sie sich schon avant la lettre einer simplen Fortschrittslogik
widersetzten und den (Selbst)Gewissheitsverlusten des späteuropäischen
Bewusstseins zwar
nicht seine vormals transzendentale Konfiguration zurückgeben können, aber die relative
Autonomie, die das Leben lebbar macht. In der lebenskünstlerischen Philosophie tritt die
Eule der Minerva einen späten Flug durch die unheimlichen Räume einer sich entgrenzenden
Wirklichkeit an. Vielleicht kann Philosophie ab jetzt nur noch so sein, oder sie wird in
Abwandlung eines Worts von Andre Breton überhaupt nicht mehr sein. Von ihren alten
Gegenüberstellungen müssen wir uns trennen, weder Subjekt noch Objekt, Sosein und
Anderssein, Wirklichkeit und Virtualität bewahren ihre klassische Form. Das Subjekt muß
zeigen, ob es seiner trägen Stammesgeschichte überlegen ist und die Lebenskunst, die
eine Kunst des Selbst ist, auch mit den Anforderungen fertig wird, die seine raumzeitliche
Geworfenheit unendlich provozieren. Das mag dann die Haltegriffe schaffen, seine eigene
Existenz immer wieder der Kritik und Rekonstruktion zu unterziehen und sich in klügerer
Weise auf ein Spiel einzulassen, das Leben heißt. So stellte Paul Valéry in
seinen essayistischen Selbstentwürfen fest: "Es gibt nur ein Beginnen: sich neu
beginnen. Das ist nicht einfach." (Gedanken anlässlich der Publikation von Wilhelm
Schmid, Philosophie der Lebenskunst).
Moralist. Moralisten ja, aber keine Säuerlichkeit.
Kategorie. Arretierung eines Begriffs. Die Kategorie von gestern ist der
Allgemeinplatz von morgen. Wer sich nicht vor einem kategorialem Umgang mit Kategorien
schützt, führt ein Schraubstockleben.
Ouroboros. Philosophie und Kunst sind autophagische Tätigkeiten. Sie verzehren
sich permanent selbst und verschwinden in sich. Schade, daß die Biologie diese Metapher
in ihren real existierenden Kanon nicht aufgenommen hat. Wohin mit den Überbleibseln?
Chaos. Kausalität ist der Trick des Lebens, offene Wahrscheinlichkeiten zu
leugnen. In der Apotheose der Entropie feiern wir die Absetzorgien einer beschädigten
Vernunft. Wir können nicht die Rationalitätsformen beliebig wechseln, aber wir können
die angeschlagene Athene becircen, bis ihre Metastasen aufbrechen, und der Textausschlag
ihr stählernes Korsett überwuchert. Die Dichter flicken ohnehin schon solange vergeblich
die Schnittstellen zwischen Welt und Werk, so daß ein Kunstfehler mehr oder weniger nicht
weiter auffällt.
Komik. Aber sie sind ein flacher Komiker, wenn ich an Platon denke.
Kool Killer. Soviel wissen wir. Der Aufstand der Objekte zieht die Apathie der
Beobachter nach sich. Wann aber werden Objekte apathisch? Vielleicht können wir solange
in einer historischen Nische verharren.
Imperialismus der Vernunft. Kulinarische Vernunft, taktile Vernunft,
olfaktorische Vernunft. Nicht nur eine Physiologie des Geschmacks (Brillat-Savarin).
Austausch der Sinne. Bilder Hören, Töne Sehen, Sterne Fühlen, Wolken
Schmecken, Gedanken Tasten etc. Jedes Phänomen mit allen Sinnen packen. Wäre das die
ganze Welt? Oder brauchen wir neue Sinne, um neue Phänomene kennenzulernen? Ad infinitum?
Dahinter versteckt sich der Glaube, daß die Welt zwar nicht unendlich sein mag, aber
unerschöpflich.
Physiologie des Feinschmeckers. Das Kulinarische interessiert als versteckte
Askese. In modernen Zwangsgesellschaften wird der Feinschmecker zum Ersatzlustgewinnler.
Platonische Phantasie. Der Buridansche Esel als Sein und Erscheinung.
Platon. Vom Höhlengleichnis zum Höllengleichnis ist es ein kurzer Weg. Etwa
die Strecke zwischen Platon und Dante.
Auf den Kopf. Wer Philosophen auf den Kopf stellt, muß damit rechnen, daß
kleine Münzen aus ihren Taschen fallen.
Welt als Handlungsform. Die neue Philosophie bildet wenig interessante Sätze.
Dass die Wahrheit interessant sei, ein Erlebnis, ja mehr, ein Ereignis, das den
Ereignissen des Nichtdenkens ebenbürtig sei, wagen wenige zu hoffen, noch weniger zu
verstehen. Die alte Bildungsidee, die den Horizont des Wissens als den Horizont der Welt
abbildete, ist dahin. Fraglich bleibt, ob die Philosophie je wirkungsmächtig war oder nur
eine nacheilende Befriedungsform der Weltgeister. Unbestreitbar wird eine
Zentralperspektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts die Explosion der Medien in neuen
Virtualitätswelten, die Nachschöpfung der Humangenetik oder die Globalisierung der
Gesellschaften in eine Weltgesellschaft zuvörderst in den Blick nehmen, ohne allzu sehr
auf die Zurüstungen der Philosophie zu vertrauen. So viel Veränderung, so wenig
Philosophie. Das Geschäft des Denkens dankt ab. Weder Erkenntnis, Ethik oder Ästhetik
ringen der Welt zur Zeit neue Fassungen ab. Kein "furor philosophicus"
erschüttert Zeitgenossen oder Auguren. Wo bleiben die verkündeten Wertsetzer? Wo sind
die Antidote gegen die Existenz?
Welterschließung ist ein Prozess des Erkennens und Handelns in der Welt. Jede
transzendente Auseinandersetzung mit der Welt verlässt doch nie dieses immanente
Weltverhältnis. So gelangt die Welt im Subjekt nicht über sich hinaus, sondern findet
als Welt des Werdens zum Sein. Erkennen und Handeln sind interdependente Vorgänge, durch
logische Sekunden getrennt. Weder das Erkennen noch das Handeln begründen apriorische
Weltverhältnisse vor der eigentlichen Welt. Der Vorwurf des Denkens im Anhub der Welt
bleibt ohne vitalen Elan. Die Welt ist ab jetzt alles, was das Medium ist. Der
Primärjargon der Philosophie bleibt eine Ableitung der Erkenntnisbedingungen wider seinen
Anspruch, die authentische Weltverfassung wiederzugeben. In der Sprachphilosophie werden
die Korruptelen der Alltagssprache wider ihren guten Sinn gebürstet, bis sich die
Nackenhaare der Denker sträuben. Die Suche nach dem Anfang, der ersten Ursache, den
ersten Dingen führt in ein Erkenntniszwielicht, dem nur zum Preis der Hypostasierung des
Weltverhältnisses zu entrinnen ist. Die Freigänge der Theorie erscheinen nicht mehr als
untaugliche Fluchten aus der Komplexität der Welt zu sein. Komplexität ist nicht nur
eine Addition von Schwierigkeiten, sondern das klassische Medium der Bewegung des
Menschen in seiner jeweiligen Welt. Jedes Handeln steht unter dem Verdikt des Scheiterns,
weil dieser Druck zu hoch wird. An diesen Umstand knüpfen sich Nihilismus,
Existenzialismus und Postmoderne mit wechselnden Besetzungen der Sorge des Selbst um sich,
wenn sonst schon nichts zu retten ist.
Artillerie. Nietzsches Pathos wollte die Geschichte der Welt in zwei
Hälften schießen. Artilleristenphantasien in einer unbekannten Schlachtordnung des
Weltgeistes. Rationalisierung des Handelns heißt dagegen vorläufigen und konventionellen
Paradigmen zu folgen. Wie Krücken helfen sie über das Elend des Ganzen. Tiefenanalytisch
betrachtet die Furcht vor der Freiheit des Seins als Werden. Rationalität ist kein
voluntativer Akt, der mehr oder weniger ein Handeln bestimmt. Der Entscheidung zur
Rationalität sind bioevolutionäre Handlungsmodi vorgelagert, die das Subjekt auf diesen
Weg zwingen. Der Idealismus verkoppelte, was nicht zusammengehörte: Ausgang aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit wurde als selbstrefentielles Metaverhalten des
geworfenen Subjekts gefeiert. Aber das Subjekt besitzt kein voluntativ vorgelagertes
Planungszentrum, dem das Handeln zwangsläufig folgt. Das Subjekt hat in der Fassung
seines Weltverhältnisses eine zirkuläre Handlungsstruktur, die präkonditioniert durch
phylogenetische und ontogenetische Handlungsmuster nie dem Subjekt allein gehört. Die
Welt verständigt sich selbst über Subjekte. Mag der Terminus "Welt" darin die
unbekannte Chiffre sein, aber es gibt keine Möglichkeit, das Subjekt und sein Handeln aus
dem widerständigen Weltprozess zu (er)lösen. Das Elend der Analyse sind die
synthetischen Vernetzungen des Subjekts mit der Welt. Zwar lassen sich Muskelreize
singulär auslösen. Aber die Handlungsweisen in der Welt integrieren sich in einen
Zusammenhang, der nicht seziert werden kann. Die Welt spaltet sich in gegensätzliche
Teilwelten auf, die ihrem eigenen Wahrheitsanspruch folgen, aber bleibt doch ein Ganzes
ohne bekannte Formel. Unser Wahrheitsanspruch folgt dem Faden der Welt und verliert ihn
lustvoll: Ariadne ist zwiespältig in ihrer Gunst. Philosophie hat danach immer
Wahrheitsfunktionen, aber nie die Wahrheit, wie viel weniger entfaltet sich ein Weltgeist.
Philosophie ist eine partikulare Tätigkeit. Pragmatische Philosophie ist nicht weniger
theoretisch, wenn sie die Anläße, Motive und Folgen des Handelns aus dem Weltverhältnis
löst. Die Differenz des Handelns gegen das prästabilierte Weltverhältnis gehorcht dem
Weltverhältnis selbst. Welt als Werden heißt Philosophie in Bewegung zum Sein. Danach
gehört das Denken zwar zu den plastischen Prozessen, aber in der Sprache gerinnt es zu
einer Form, die dem Handeln widerstreitet. Wenn Philosophie als vergebliche Wissenschaft
erscheint, alte Hilfswissenschaften und neue Avantgardewissenschaften ihren
Primäranspruch verdrängen, fragt sich, welche Versäumnisse der Philosophie anzulasten
sind. Das zentrale Problem abendländischer Philosophie bleibt das Wechselspiel von Sein
und Schein: "Wahre Welt" hinter und über der Scheinwelt, Transzendenz des
"Dings an sich" versus sinnliche Immanenz. Die Wahrheitsliebe ist ein altes
Geschäft, von vielen Rosstäuschern und Frühvollendern betrieben. Mag das
nachplatonische Denken bis heute nur Fußnoten produziert haben, so können die antiken
Paradigmen doch auf ihren Siegeslauf durch die Jahrhunderte verweisen. Paradigmenwechsel
kleben an ihren Ausgangspunkten, archimedische Punkte in unbekannten Begriffsuniversen
müssen sich erst erweisen. Die Zentripetalbewegung vom Platonismus weg hat nicht weit
getragen. Subjekt-Objekt-Verhältnisse im Wechselspiel von Schein und Sein haben die
Differenzierungsanstrengungen bis in die Neuheit hinein begleitet. Die Medien haben eine
Scheinwelt zweiter Ordnung eingeleitet. Was wäre, wenn sich die Philosophie nicht nur der
Weisheit entkleidete, sondern auch die Liebe aufgäbe? Besteht die Chance für eine
Philosophie der Fragen? Aber auch Fragen werden von Erkenntnis-Aprioris geleitet.
© Goedart Palm
Kritik am Weltgeist. Schopenhauers Kritik an Hegel ist der Verärgerung
des guten Hausvaters am Schabernack der bösen Buben vergleichbar, die alles
durcheinanderbringen. Betroffenheitsphilosophie verbindet sich nie mit Spekulationismus.
Aber wer neues Terrain erobern will, muß ein Bodenspekulant sein, einen claim abstecken,
vielleicht ist ja doch Gold zu finden. Zwei Richtungen des Denkens unterscheiden: Die
Wahrer und die Neuerer.
Ratlos. Aporien sind solange gut, wie sie der Geist als Spannungs- widerstand
benötigt. Lang andauernde Ratlosigkeit läßt das Leben nicht zu.
Letzte Überzeugung. Plötzlich geht das Licht an, der Traum löst sich auf,
Klarheit.
Ruhelager. Breit getretenen Gedanken - jetzt kann jeder auf ihnen ausruhen.
Der Fall. Fragen wir Nichtphilosophen nach ihren Erkenntnissen, werden sich die
Verhältnisse wundersam aufklären: Die Welt ist auch ihnen alles, was der Fall ist.
Mithin: Was passiert, das passiert. Wer aber tiefer gräbt, wird das reine Nichts zutage
fördern. Wäre die Welt ein Un-Fall?
Alltäglichkeit. Alltäglichkeit kann genausowenig als geheimer Attraktor des
Denkens gelten wie abgewirtschaftete Alttopoi der Meisterdenker.
Ausweg. Einen Weg aus den Aporien mag vielleicht die Welt selbst weisen. Wäre
die Welt eine riesige Selbstreferenz, allein auf sich bezogen und nicht in der Erkenntnis
uniformierbar, dann wäre nur die Gesamtheit der Phänomene, ihr Wechselspiel und dessen
Schatten, die Antwort auf die Welt. Nicht mehr und nicht weniger: Die Welt als Liebe zu
sich selbst, ein gigantischer Zirkel narzißtischer Begegnung. Das mag als Antwort auf die
klassische Philosophie vorläufig genügen.
Subjektphilosophie. Subjektphilosophie konstituiert eine abgeschlossene
Kleinwelt, die der großen Welt abgelistet, doch nie diese abbilden kann. Subjekte sind
keine Welterkenntnisinstrumente für sich. Mag das Ich auch mehr als eine Wartehalle der
Empfindungen sein, reicht es doch nicht aus, die Welt zu beschreiben. Welt ist nicht nur
das Wahrgenommene. Mehr als Sappeure in Froschaugenstellungen, aber viel weniger als
panoptische Superpositionen sind Subjekte Transmissionsagenturen des Weltwissens über
sich selbst.
Denunziation. Auch dieser Begriff ist zu denunzieren, weil es keine
denunziationsgeeigneten Instanzen mehr gibt. Mit anderen Worten: Es gibt Tätigkeiten,
für die kein Abnehmer mehr bereitsteht.
Sabotage. Der lange Marsch durch die Funktionen.
Metateleologie. Es scheint einfach, eigene von fremden Zwecken unterscheiden.
Schwer ist es dagegen, sich über Zwecksetzungen hinwegzusetzen, sich auf den Fluß des
Lebens zu verlassen, einen Über-Zweck zu finden. Einiges ist bereits erreicht, wenn
Zwecke als pragmatische Fiktionen behandelt werden. Solche Zwecke können ausgetauscht
werden nach dem Prinzip "Wer A sagt, muss nicht B sagen." Fraglos handeln
Menschen schon je nach diesem Prinzip, aber die Selbstreflektion, daß nicht die
Zweckerreichung, sondern das situativ angemessene Verhalten wichtig ist, gerät oft
schwerfällig. So werden hartnäckig Ziele weiterverfolgt, die längst obsolet geworden
sind. Alte Programme laufen weiter, obwohl ihre Untauglichkeit hinlänglich bewiesen ist.
Mikro. Ausschweifendes Quantentheater. Mit der Quantenmechanik ist die Lust in
die Physik eingezogen. Eine Wiedergeburt als Korpuskel müßte erstrebenswert sein.
Alchimie. Wahrheitssuche als Goldsuche, mit den untauglichen Mitteln der
Alchimisten. In ferner Zukunft wird einer sagen: "Hier ist sie, das haben sie
gesucht, aber sie hätten das Periodensystem der Wahrheit erkennen müssen. Einige der
heutigen Wahrheiten mögen immerhin das Porzellan der frühen Tage sein. Hin und wieder
ein Zufallsfund, nur kein System. Wie Luhmann sagt: "...ein bisschen besser
verstehen".
Welt. Und wenn die Welt doch nur eine Demoversion wäre. Vielleicht gibt es eine
Vergabestelle für Zeit, die genügend Äonen bereit hält, um uns das werden zu lassen,
was in der üblichen Lebenszeit nicht erreichbar ist. Paradies für Denker.
Selbstverwirklichung als Zeitfrage.
Mündigkeit. Selbsterziehung zur Autonomie ist ein beschwerlicher Weg. Es gibt
keine selbstverschuldete Unmündigkeit, nur unverschuldete Müdigkeit. Alle confessiones
sprechen ihren Autor von Schuld frei. Rousseau wird gleichwohl nicht in den Augen
der Nachwelt exkulpiert.
Netzwerke. Das von Holisten beschworene Vernetzungsdenken hat Energien,
Intensitäten, diffuse Zustände gefeiert, weil kein armseliges Ding unter der Sonne sei,
das nicht mit anderen im numinosen Zusammenhang stehe. Immer wieder gilt die Welt als das
Ganze. Aber die Mathematiker wissen längst, daß "unendlich" und "1"
auch "unendlich" ist. Was wäre, wenn die Welt doch disparat wäre, ihr Prinzip
darin fände, keines zu haben? Lassen wir uns zu sehr von der Gleichzeitigkeit der
Ereignisse täuschen?
Definition. Begriff auf der Suche nach sich selbst. Definitionen müssen ihre
Umwelt in ihr System kopieren. Danach weisen sie immer schon über ihre Grenzen hinaus.
Wer eine Definition besitzt, besitzt auch eine Umwelt. Jede Definition ist die ganze
Karte.
Ableitung. Auch wenn wir Ableitungen finden, müssen wir alles zugleich
irreduzibel nehmen. Es ist leichter, das Allgemeine zu fassen, als das Besondere
wahrzunehmen. Von hier aus eine Theorie der Wahrnehmung schreiben, die allemal wichtiger
als eine Theorie der Wahrheit ist. Auch der Begriff der Wahrheit ist bereits durch das
Allgemeine belastet.
Schreibfehler. Jemand schreibt "vermütlich". Das macht Sinn: eine
gemütliche Vermutung.
Nietzsche. Eine fundamentale Gewalt gegen die Metaphysik und ihre Derivate. Aber
zuletzt doch ein Pastorensohn, der wider jede Vernunft zum letzten Mal eine ethische
Revolution über alle Äonen hinweg behauptet. Mithin trifft ihn das Verdikt, den Ernst in
das Spiel der Macht zu bringen. Die fröhliche Wissenschaft wurde zuletzt bitter, allzu
bitter.
Lebensbejahung. Warum bejahen, warum verneinen? Warum Fatalist sein?
Überzeugungen sparen und statt dessen wahrnehmen, ohne schnell zu schließen. Vielleicht
Jahrzehnte warten, bis man ein Wort wagt.
Nihil est in intellectu, quod non sit prius in sensu. Wer keine Augen im Kopf
hat, hat auch sonst nichts darin. Gilt für alle Sinne.
Freeze. Wenn das Welttheater plötzlich beendet würde, würden wir es nicht
einmal merken.
Eine Art der Befriedigung. So lange klagen, bis die Wünsche erledigt sind. Das
Alter kennt diese Befriedigung mitunter.
Nihilismus. Alles ist nichts ((Eno(Hui-Neng)) nichts ist wahr abschied oh
sie tragen ja an ihrem eigenen Nichts so schwer. Oder ist das Nichts demokratisch und
egalitär.
Nominalistisch. Namen sind Bedeutungsgaleeren. Im Irrgarten des Textes markieren
sie Subjekte auf die radikalste Weise. Jeder Name trägt die Last eines ganzen Lebens.
Transit ab ovo usque ad mala. Erst die Namen sichern der Welt die Existenz. Der
Glaubensverlust in der universalistischen Weltdeutung ist zugleich die Geburtsstunde der
Namen. So wie die Zahl der Namen Gottes unendlich sein mag, scheint es die der Menschen
auch zu sein. Darin erträumt der Mensch seinen göttlichen Auftrag.
Lachhaft. Olympisches Lachen hat seinen Preis. So zu lachen, als sei das Lachen
nie erfunden worden, das ist der Spaß. Wenn die Weisen über das Klatschen einer Hand
meditieren oder zwanzig Jahre vor einer Felswand sitzen, um schließlich zu wissen, daß
sie nichts wissen, kann uns die Zeit nicht lang werden. Von den zen-buddhistischen
"koans" bis zu den Weltwirtschaftsberichten schreibt sich die Jokologie solange
als untergründige Wissenschaft fort, bis staatlich konzessionierte Witzbolde auf den
Lehrstühlen unserer Universitäten sitzen. Übrigens nicht Hans Lenk, weil witzig
noch zu ungelenk.
Witz. Eine Pointe, die morgen zum Allgemeinplatz wird.
Postmoderne. Zustand nachdem, weil vorher, also später als früher.
Poststrukturalismus. Mauerreste geschliffener Hochburgen als geistiges Eigentum
ausgeben.
Paradoxie. Erkenntnisunvermögen auf der Suche nach sich selbst.
Paranoia. Die Geburtsstunde der Paranoia schlägt, wenn die Mythen, die zum
Logos treiben, aufgesaugt werden und der Logos zu halluzinieren beginnt. Paranoia wird zum
Überlebenstraining in einer Welt, in der die Gewissheitsverluste in der Weltbeschreibung
auf die Individuen abgelastet werden. In dem unendlich-dimensionalen Raum der
Quantenmechanik behauptet die Paranoia die deterministische Position gegenüber den
stochastischen Prozessen, die sie nach dem Prinzip der Komplementarität aber zugleich
auch reflektiert.
Logik. Auch der Logik muß man ihre Freiräume lassen. Sonst droht sie,
unlogisch zu werden.
Proportion. Gerechtigkeit ist nach Aristoteles der Sinn für die
Proportion. Anders als dieses Großziel juristischen Handwerks läßt sich auch nicht die
Arbeit des Künstlers begreifen.
Quantenphysik. Magie, die das Betrachtungsobjekt gegen das Betrachtungssubjekt
austauscht. Pragmatismus. Der Pragmatismus würde nur funktionieren, wenn wir
wüßten, was uns nützlich ist. Alle Wahrheiten wurden je nur unter dem
unbewussten
Gesichtspunkt der Nützlichkeit ermittelt.
Sinn. Katastrophen, die nichts lehren.
Ratio emotionalis. Gefühle sind Schmiermasse der Gedanken. Gefühle sind
Antrieb und Widerstand für rationale Leistungen. Die Trennung von Vernunft und Gefühl
gehört zur größten Unvernunft und beweist überdies die Gefühllosigkeit der Vernunft.
Noch fehlt eine Theorie für die Geschlossenheit des Bewusstseinsapparats. Ungenügen
an der Philosophie. Setzt nicht mit jeder philosophischen Frage eine präpotente Lust
ein, die mit dem vorläufigen Ende des endlosen Diskurses purem Ungenügen weicht?
Philosophen haben die Weisheitsliebe ihres Apriori, ja ihrer Substanz geraubt. Die
Akzidentien emanzipieren sich nicht nur gegen die entkernte Substanz, sondern
widerstreiten auch dem negierenden Subjekt hegelianischer Provenienz, weil sie bisher
zwischen die Maschen einer Begriffswelt fielen. Die Rettung des Nichtidentitären ist auch
der kritischen Theorie Anliegen. Aber die kritische Theorie hat die affirmativen
Restbestände einer entkategorialisierten Moral auf dem doppelbödigen Parkett
bürgerlicher Glücksversprechungen zu sichern versucht. Die Identitätsrestposten im
Winterschlussverkauf der Philosophie wurden wie trockene Semmeln verkauft, die in die
Milch der frommen Denkungsart getunkt werden mußten, um genießbar zu sein. Adornos
kritischer Impetus verließ ihn immer da, wo seine Biografie an das perennierende Grauen
gekettet worden war, wo die Kunst, vor allen Künsten die Musik, die spröden
Glücksverheißungen bürgerlicher Kultur ernstnahm. So wurde das Nichtidentische in der
negativen Theorie zum Fetisch, um die Begriffe gegen ihre Reibungsverluste zu schützen,
ohne doch den Sprung zwischen die Begriffe und Namen zu riskieren. Das Risiko ist hoch: Es
geht um nicht mehr oder weniger als die Existenz der Philosophie selbst. Eine solche
Philosophie wird leicht als Literatur denunziert. Wie rechtfertigen sich diese Texte
gegenüber den Erotomanen der Weisheit? Dass die Philosophie mehr wisse als das
Alltagsbewusstsein ist trotz des Diktum Sokrates' über sein Nichtwissen immer ihr
Selbstrechtfertigungsgestus gewesen. Sokrates ist einer der schlimmsten Bescheid-
und Besserwisser im Kreis der Meisterdenker gewesen. Wer den Duktus dieser Hebamme nicht
flieht, nicht auf Abtreibung durch den Schierlingsbecher hofft, weiß nicht,
dass das
Ressentiment Zarathustras vor der Philosophie eine gewaltige Kraft des Handelns
gibt. Die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit haben die Philosophie immer wieder
in diesen Selbstrechtfertigungsdiskurs getrieben, der an sich das Erkennbare der Welt
erweisen wollte. Die hohe Zeit der Erkennntnistheorie, später der Sprachanalyse und
Universalpragmatik, bestand in der Sichtung der Instrumente: Wer seine Instrumente gut
kennt, kann auch operieren. Von diesem Zirkel hat sich die Philosophie bisher noch nicht
erholt. Zwanghaft schob sich der Apriorismus in immer neuen Spielarten, immer neuen
Ableitungen und Umwegen zwischen die einfachen Fragen, die vielleicht falsch gestellt
waren und Antworten, die die Fragen wider sich selbst wendeten. Dekonstruierte Texte sind
ein zwingender Spätschaden eines Denkens, das jenseits der Weisheit zu seiner Liebe
findet. Nulla dies sine linea. Und ab in die Remittendenkiste...welche Bücher
werden in tausend Jahren noch gelesen? Ach´wenn ihr nicht geschrieben hättet, wäret ihr
zwar keine Philosophen gewesen, aber immerhin als Zeitgenossen durchgegangen. So aber -
schlagen wir uns mit euren Müllhalden herum, auf der Suche nach Verwertbarem. Fromm.
Ob einer fromm ist, erkennst du an seiner Nichtbereitschaft, Grenzen zu überschreiten. Er
ist gebunden. Er glaubt an seine Heimat.
Gunst. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er nirgendwohin.
"Ihre
Voraussetzung ist falsch, vollkommen falsch: denn wenn wirklich
diese Welt die denkbar beste wäre, so wäre klar, dass sie
ungeschaffen wäre, und es gäbe keinen Gott! Ihre Unvollkommenheit
ist der überzeugendste Beweis, dass sie geschaffen und einem Wesen
untergeordnet ist, das vollkommener ist als sie." (Abbé
Galiani) |
|