Zu
den Aporien moralischer Reflexion
Paradiesischer
Anfang: Der freie Wille, der Gott so angelegen ist, lässt das Böse zu.
Das Böse als Nichtkategorie, als substanzloses Nichts belegt in seiner
divinen Rückversicherung die Unwilligkeit, das Böse zu erfassen, ihm
einen Platz und originäre Qualität zuzusprechen. Dafür, dass das Böse
nach Augustinus so substanzlos ist, hat es allerdings einen sehr soliden
Wirklichkeitsstatus, wenn wir uns erst einmal auf die Unterscheidung
eingelassen haben. Das Böse als Derivat des Guten, nicht als manichäische
Gegenmacht, könnte jedoch mehr sein als der Stoff, aus dem man
Theodizeen macht, wenn er zugleich eine unhintergehbare logische Kontur
hätte.
Wie
sieht der logische Test aus: Könnte das Abhängigkeitsverhältnis
moralischer Werte umgekehrt formuliert werden? Erst kommt das Böse, das
Gute wäre dagegen nur seine Ableitung. Wir können zwar traditionell
oder mit psychoanalytischer Unterstützung behaupten, dass das Böse ein
fehlgeleitetes Gutes ist. Dagegen aber das Gute als akzidentiell zum Bösen
zu denken, das Böse also als vorrangiges Prinzip zu formulieren, macht
vorderhand wenig Sinn. Hier hilft allerdings die Denkfigur Friedrich
Nietzsches, das Gute als eine moralische (!) Schwäche zu behandeln, böse
zu sein. Hier werden die Rollen der moralischen Bewertungen von
menschlichen Handlungen vertauscht, sodass also cum grano salis das Gute
das Böse wäre wie umgekehrt. Nietzsche demonstrierte diese Umwertung
der Werte durch einen Tigersprung zurück in die vorsokratische Epoche,
vor den Beginn des christlichen Platonismus. Nun sollte eine entmuckerte,
ästhetisch sich aufgipfelnde Existenz das Dasein neu rechtfertigen und
vitalisieren. Sein Angebot, diese postchristliche Wertefabrikation
gleich selbst zu besorgen, ließ ihn in höchster Weise von sich selbst
denken, zur Zäsur der Zeitalter werden: »Plato hat es prachtvoll
beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden
Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muss: denn als
Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und
wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden,
so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als 'das böse
Prinzip'.« (Friedrich Nietzsche, Morgenröte). In das »Jenseits von
Gut und Böse« gelangen wir dadurch heute längst nicht, weil wir uns
nicht nur – wenn auch unter anderen Vorzeichen – in die älteste
Moralunterscheidung verstricken, sondern die ästhetische Lebensform
eine durch und durch vitalistische Fiktion ist, die sich in den
Anmutungen der verwalteten Existenz auflöst oder lächerlich (Stefan
George) wird.
Niklas
Luhmann provozierte in selbstreferentieller Anwendung der moralischen
Reflexion auf ihre Unterscheidung hin mit der radikaleren Frage, ob es
gut sei, den Unterschied von Gut und Böse zu machen. Ist es nicht ein
Fehltritt, sich für das Gute zu entscheiden, wenn allein eine
moralfreie Beobachtung wissenschaftlich probat wäre? Doch dann ist es
gut, sich als Wissenschaftler bei der Untersuchung des Guten, nicht für
das Gute zu unterscheiden. Dieser paradoxe Zirkel markiert weiterhin,
dass es offensichtlich schwierig bis unmöglich ist, in unserem
moralischen Apriori zu formulieren, dass es böse ist, zwischen gut und
böse zu unterscheiden. Wenn wir die Unterscheidung auf sich selbst
anwenden, entsteht wiederum eine neue moralische Ordnung, in der es gut
wäre, nicht moralisch zu urteilen. Fazit ist also, dass in
systemtheoretischer Perspektive die zuvor so selbstgewisse Ethik die
Moral nicht grundieren kann, sondern kontingent bleibt. Als
gesellschaftliche Supercodierung wird das Schema »Gut/Böse« zwar
permanent instrumentalisiert, wie es der politische Apparat in seiner »höheren
Amoralität« zeigt. Tatsächlich folgen aber – und dafür muss man
kein Systemtheoretiker sein – gesellschaftliche Teilbereiche, vulgo:
Systeme, völlig anderen Imperativen, was nicht ausschließt, dass die
Moral, assistiert von anderen Codes, plötzlich und unerwartet zuschlägt
(Beispiel: Karl-Theodor zu Guttenberg).
Immerhin
kann uns der ewige Ge- und Missbrauch der moralischen Differenzierung
dahin führen, die Unterscheidung für nicht gut zu halten, wenigstens
aber für bedeutungslos, wenn wir nicht ihren reflexionslogischen
Kontext genauer angeben. Wer moralisiert, will verletzen, heißt es bei
Niklas Luhmann, was wiederum nietzscheanisch übersetzt heißt: Wer
moralisiert, strebt nach Macht. Der Systemtheoretiker rät daher zu
einer Ethik, die vor der Moral warnt. Aber ist das nicht wieder der
Beelzebub, der den Teufel austreibt? Es macht offensichtlich auch
ethisch wenig Sinn, gutes und böses Handeln als inkommensurabel zu
bezeichnen, weil die moralische Differenzierung auf das Miteinander
beide Werte, auf die Einheit der Differenz angewiesen bleibt. Eine
moralische Reflexion, die beide Prinzipien beziehungslos nebeneinander
verwenden wollte, wäre ein aporetisches Unternehmen, weil sie keine
Aussagen mehr über richtiges Verhalten treffen könnte. Wer das Böse
radikalisiert und autonom werden lässt, begibt sich der Kritik.
Insofern sind die verhandelten Modelle unzulänglich, sodass jenseits
der naiven, aber praktikablen Unterscheidung, »gut« und »böse« zu
fragilen Kategorien werden. Die moralische Reflexion der Moral setzt
einer Vernunft, die doch praktisch sein will, erheblich zu, ohne dass
noch der Glaube bestünde, sich hier aus einer rein strategischen Option
für diese oder jene Differenzierung zweier moralischer Zustände noch
befreien zu können. Gegenüber manichäischen Wiederbelebungen oder
axiomatischen Ontologisierungen des Bösen ist es also vorzugswürdig,
die Referenzen des Wertschemas genauer anzugeben. Folgenbetrachtungen
von Handlungen sind »moralisch« wichtiger als generelle
Standortbestimmungen eines abstrakt Guten/Bösen. Was passiert, wenn ich
dieses oder jenes tue, wäre dann eine kategorische Frage, ohne die
Antwort in einem vorgeschalteten Imperativ zu suchen, den alle
(pflichtgemäß) Handelnden gegenzeichnen. Insofern besitzt die
moralische Reflexion selbst eine moralische Qualität, ohne der
Aufdringlichkeit einer machtorientierten Ethik verfallen zu müssen,
trennscharfe Unterschiede zwischen »gut« und »böse« zu verordnen.
»Da die Urteilskraft auf Andere reflektiert, ist nur der ‚böse’
Mensch, der nicht urteilt, den Unterschied nicht kennt, zu allem fähig.«
Hannah Arendt formuliert hier den intellektuellen Glauben, dass das
Denken selbst nicht böse sein kann. Nur der, der nicht denkt, sei böse.
Wir gelangen hier auf dem Weg der politischen Urteilskraft zu einer
kommunikativen Vernunft, die schon im Apriori »gut« ist, weil
Kommunikation in ihren Geltungsansprüchen darin besteht, den Anderen
anzuerkennen.
Goedart
Palm
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