»Böse,
Böse, Böse!« Mallory schimpft heftig. Ihr Freund Mickey, ein »natural
born killer«, wie wir später erfahren, hat gerade einen weisen
Navajo-Indianer getötet. Der wollte ihm doch nur helfen, die bösen Dämonen
seiner Kindheit zu besiegen und die verdrängten Erinnerungen an frühen
Missbrauch urbar zu machen. Mickey schießt, als er aus diesem künstlich
bereiteten (Alp)traum noch nicht ganz erwacht ist. Das chaotische
Multilayer-Kino spülte sein Unbewusstes hoch. Selbst der Strafrichter müsste
hier am Schuldspruch zweifeln, weil Mickey nicht zurechnungsfähig war.
Hier war das Böse nicht der Preis der Freiheit, wie es Rüdiger
Safranski, einem alten christlichen Reim auf die verqueren Verhältnisse
folgend, definiert. Das postmoderne Bonnie und Clyde-Duo tötet 52
Menschen, doch nie zuvor sagte Mallory, dass Mickey böse sei. Mallory
hat selbst auch keine moralischen Hemmungen, als kontingent handelnde
Nemesis Opfer zu machen. Das Selbstverständnis dieses »zum Töten
geborenen« Paars erfüllt in vorzüglichster Weise das Profil der
Konrad Lorenzschen Aggressionstheorie, eben deshalb zu töten, weil es
der Instinkt gebietet. Doch wenn Instinkt Unschuld heißt, gibt es das Böse
nicht - es wird nur »so genannt«. Warum also soll Mickey jetzt böse
sein, just in dem Moment, in dem er jede Kontrolle über sich verloren
hat? Mickey entschuldigt sich konventionell, es sei ein Unfall gewesen.
Wäre das Böse das Drama der Unfreiheit?
Mallory
könnte mehr Durchblick haben als die Apologetiker des freien Willens,
wenn es um das fundamental Böse geht: »Das war böse! Vielleicht
wurden wir von einem Dämon in diese Wildnis geleitet.« Dieses Böse,
von dem Mallory spricht, entspringt nicht dem Vorsatz, einer mehr oder
minder rationalen Figur, wie es dem Apriori des (Schuld)Strafrechts und
seiner eigenen Apologetik entspricht. Es ist das unheimliche, das
radikale Böse, es sind ganz im Sinne schwarzer Romantik die »Elixiere
des Teufels« (E.T.A. Hoffmann), die Mickey »böse« machen. Der
Exorzismus des Indianers, Mickeys Dämonen zu vertreiben, schlägt fehl
und kehrt sich gegen diesen selbst. Der Teufel mag bekanntlich
Exorzisten nicht. Mickey wird in einer bösen Ordnung zum Todesengel,
weil es der Teufel so will. Das Böse, die Schlange, ist eine
unheimliche Emergenz, die so real wie imaginiär gerade dann erscheint,
wenn es unwahrscheinlich ist. Insofern ist sich der Film seiner
paradiesischen und luziferischen Motive sehr bewusst, insbesondere in
dem Moment, als Mickey und Mallory bei ihrer überstürzten Flucht aus
dem Indianerzelt auf ein Feld von Klapperschlangen geraten und gefährlich
gebissen werden. Für Regissseur Oliver Stone, den Buddhisten mit
christlich durchtränkter Semantik, ist die Schlange »a creature of
knowledge«, die immer dann, wenn Mickey auf eine trifft respektive
tritt, eine wichtige Lehre für ihn bereit halte. Erkenntnis tut weh.
Die
Geschichte von Mickey und Mallory repräsentiert ein zentrales Moment
der Ökonomie des Bösen, die Georges Bataille vorgestellt hat, sehr
gut: Sie entscheiden sich für Intensität. Ihnen wurde die Kindheit
geraubt, ihre Gefühle wurden verletzt und unterdrückt, sie waren Opfer
- nun holen sie sich selbst, was sie brauchen und delirieren in der
Gewalt. In dieser nicht klischeefreien Storyline suchen sie den Exzess,
riskieren jederzeit den eigenen Tod. Das hieß in der moderateren, aber
psychedelisch todesnahen Variante: »Live fast, love hard, die young«.
Für Georges Bataille bedeutet es, das Risiko der Intensität
einzugehen, dem positiven Menschheitsziel zu folgen, einem Wert an sich,
»hart am Rande der Ohnmacht« und ohne Angst vor dem Tod. Dieser Wert
der Intensität habe selbst keine moralische Kontur. Er bewege sich
jenseits von Gut und Böse. An diesen Ort wurden wir in der späten
Neuzeit schon häufiger geschickt, um doch immer wieder in das nackte
moralische Diesseits zu gelangen. Denn wie ist es mit dem anderen,
konventionellen Ziel zu vereinbaren ist, sicher und dauerhaft zu leben.
Das Modell kennt jeder. Wir schlagen über die Stränge, bereuen es -
oder auch nicht - und kehren wieder heim in die fade Alltäglichkeit, um
kurz danach erneut wider den Stachel zu löcken. Diese »Polarität von
Intensität und Dauer« löst Oliver Stone für Mickey und Mallory ganz
im Batailleschen Sinne, weil Stone beide Seinsweisen im Zaubermedium
Film alternieren lassen kann. Mickey und Mallory fahren mit ihren
Kindern in einem Wohnmobil der Sonne entgegen, ganz so, wie es der
amerikanische Traum vom so glücklichen wie behäbigen Familienleben zulässt.
In der alternativen Fassung des bösen Paralleluniversums dagegen bleibt
Oliver Stone der »Intensität« treu: Der Mithäftling Owen rettet das
Killer-Paar aus dem Knast und will Sex mit Mallory. Es kommt zum
showdown, in dem der »Schutzengel«, wie ihn Stone charakterisiert,
Mickey and Mallory erschießt. Der Umgang mit Paradies- und Höllenpersonal
war noch nie risikofrei. Der Teufel, der wohl nach unfehlbarer
Lehrmeinung des Papstes leibhaft existiert, ist eine reale Figur. Anders
sind seine myriadenfachen Darstellungen mit den peniblen Details einer
Ästhetik des Schrecklichen bis Peinlichen auch nicht zu erklären.
Trotz seiner mythologischen Prominenz macht uns seine Erkennbarkeit bei
wechselnder Erscheinung erheblich zu schaffen. Geradewegs ist das Wesen
des personifizierten Bösen die Täuschung. Er kommt harmlos daher,
bietet sich als netter oder unheimlicher, aber attraktiver Fremder an
und schon werden wir in seinen Bann geschlagen. So erscheinen bei
Michail Bulgakow Spaßteufel, wilde wie lustige Gesellen, hinter deren
fröhlicher grotesker Fassade sich die furchtbarsten und unnahbarsten
Finsterlinge verbergen. Aber das weiß man immer erst hinterher - wenn
es zu spät ist. Der Teufel lässt sich nicht in die Karten gucken.
Deswegen ist es auch so schwer, mit ihm zu wetten oder gar auf ihn zu
setzen. Er ist Betrüger, Täuscher und Scharlatan, der immerhin
reklamiert, mit seinen Enttäuschungen Erkenntnis zu fördern. In dem
Film »Angel Heart« erfährt der Privatdetektiv erst zum Schluss, dass
er von Satan beauftragt war, der ihm klar macht, dass just er der Mörder
ist, während er den imaginären Täter suchte.
Es gibt seit dem Paradies eine dem Bösen verbundene Erkenntnis, die der
Mensch nicht aushält. Übersetzt für den Alltagsgebrauch heißt das:
Ohne Illusionen, moralische Selbstbeschreibungen und narzisstische
Freizeichnungen geht es nicht. Überleben heißt, Wirklichkeit ständig
im großen Maße wegzufiltern und nur das »wahr zu nehmen«, was dem
Handelnden nützt. Das ist zwar ein fehleranfälliges Geschäft der
Selbstbehauptung, aber lebensrettend. In seiner Erzählung »Der
geheimnisvolle Fremde« präsentiert Mark Twain einen dem Laplaceschen Dämon
nächstverwandten Teufel, dessen moralisches Selbstverständnis das
strapazierte Schema »gut« und »böse« in den (infiniten) Regress
treibt. Immer wenn ihm besseres Alternativverhalten vorgeschlagen wird,
projiziert er diese Variante in ihren zukünftigen Untiefen: »Er hatte
eine Milliarde möglicher Lebensläufe, aber nicht einer davon war wert,
gelebt zu werden.« Solcherart ist die Weltsicht des Teufels lakonisch,
wenn er in den Weltenlauf in bester Absicht eingreift, weil »Gut« und
»Böse« in ihrem Verlauf unheimlich verzahnt sind. Dieser intrikate
Teufel gibt das »Böse«, das er vermeintlich repräsentiert, letztlich
wieder an den Schöpfer zurück, der für die Initialzündung dieser
besten aller möglichen Welten verantwortlich ist. Satanisch ist dagegen
die Erkenntnis, dass diese Welt die auswegloseste aller möglichen ist.
Wie geht der Mensch damit um? Die Erkenntnis über das Böse gefährdet
das affirmative Selbstverständnis des Menschen, was wiederum heißt,
besser nicht zu sehr über sein eigenes (Un)Wesen und dessen finstere
Antriebe unterrichtet zu sein. Und behauptet einer gar, dass es das Böse
nicht gibt, könnte das - hexenhammermäßig argumentiert - geradewegs
der Beweis sein, dass er selbst der/das Böse ist. Das ist nicht nur das
Wissen der Inquisitoren, sondern auch der erregten Anklagen der
Reformation, der wahre Teufel sitze nicht in der Hölle, sondern
horribile dictu: im Vatikan. Der Teufel ist also immer gerade da, wo wir
ihn nicht vermuten. Wer das Böse leichtfertig verortet, verfehlt es
also!
Goedart
Palm
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