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Medienphänomene - einige programmatische Stichworte - "al fresco" gesprochen: Mehr über den Umgang mit Medien schreiben. Nicht abstrakte Medienkompetenzen formulieren, Medienethiken beschwören, sondern Konkretion unseres Gebrauchs: Was machen wir mit Medien? Was machen Sie mit uns? Lässt sich das trennen? Geht abends durch die Stadt: Sie kleben an den PCs, werden eingesogen - in "wechselseitigem" Einverständnis von Mensch und Maschine, ohne dass das Einverständnis noch irgendeine Bedeutung hätte, was Medienethiker weitgehend verkennen. 

Zur Virtualität des Analogen - Zettels Albtraum von der digitalen Vorherrschaft

„Softwarefehler und Computerabstürze haben auch eine positive Seite: Sie raten uns, die Aufmerksamkeit zu diversifizieren und nicht all unsere virtuellen Eier in ein und und denselben elektronischen Korb zu legen.“ (Edward Tenner)[1]

Microsofts Programm "Word" präsentiert ein Icon, das neben bzw. unter dem Versalen "W" ein Papierblatt mit einem Eselsohr an der rechten Ecke zeigt. Angedeutet sind Linien, die über den Bogen ziehen. Eine Metapher also soll uns mit dem Abschied vom Papier versöhnen. Unzählige Male wird täglich dieses papierlose Dokument geöffnet, das hartnäckig seine Herkunft aus den Zeiten des Papiers beschwört. Nicht so viel anders als jene ersten Autos, die ihre konzeptuelle Geburt im auslaufenden Zeitalter der Postkutschen nicht leugnen konnten. Die Kutschenähnlichkeit von Autos mit ihren nostalgisch zweckfreien Trittbrettern ist Geschichte. Wir lernen ein neues Medium als vermeintliche Anleihe an ein tradiertes besser zu begreifen, aber gerade diese Wahrnehmung schafft zugleich die Hindernisse, die phänomenologischen Eigenarten neuer Medien zu verstehen.

Digitale Texte sind eben nicht zu be-greifen, nicht zu berühren, es wird nichts inskribiert, sondern wir besitzen eine Zaubertafel, auf der Zeichen entstehen, die zumindest auf den Oberflächen spurenlos korrigiert werden können. Unsere Arbeit umgibt die Aura des tendenziell immer fertigen, ja perfekten Textes. Warum ist dann das papierlose Büro bisher eine Fiktion geblieben? Sind es klebrige Gewohnheiten, die uns noch hindern, den letzten Rest Papier aus unserem hochorganisierten Arbeitsalltag zu verbannen bzw. wegzuscannen? Wie anachronistisch sind im Zeitalter von Word, RTF, PDF sowie dem allgegenwärtigen "Copy and Paste" die Schnittstellen zwischen hochorganisierten Festplatten und unserer (un)heimlichen Zettelwirtschaft?  

I. Bleibt Papier das Medium der Zukunft?

Papier ist ein ambivalentes Medium. Es neigt zur gnadenlosen Vermehrung nach Gesetzen, die Parkinson als Wildwuchs des bürokratischen Wahns beschrieb und die vielleicht einem uns noch nicht bekannten Gesetz der Jungfernzeugung folgen. Vom Papiersterben jedenfalls keine Spur. Statistisch betrachtet wird gegenwärtig mehr denn je Papier verwendet. In den USA ist ein Anstieg des Verbrauchs von 15 % zwischen 1995 und 2000 zu verzeichnen. Wenn es nur die Macht der Gewohnheit wäre, würde doch alles für rückläufige Zahlen dieses Mediengebrauchs sprechen. Nicht wenige Antragsformulare von Behörden wurden auch in den Zeiten digitaler Aufrüstung aufwändiger. Bleibt das Papier trotz der scheinbar mächtigen Konkurrenz textverarbeitender Programme ein Medium der Zukunft?

Papier und Stift sind wahrnehmungstechnisch und ergonomisch in ihrer Einfachheit nicht nur hochpraktisch. Der Akt der Herstellung ist spannungsreicher als das Bedienen einer Tastatur mit der Langzeitgarantie von Sehnenscheidenentzündungen. Schreibautomaten unterwerfen Menschen mechanischen Prozessen, die keine Individualität der Darstellung zulassen. Die taktile Oberfläche, die den Akt des Schreibens als sanften Widerstand erfährt, besitzt ästhetische Eigenschaften, die Touchscreens suggerieren mögen, aber längst noch nicht erreichen. Smart Paper, das die Vorzüge des analogen Mediums mit digitalen Speichereigenschaften verbindet, ist gleichfalls nicht ausgereift. Wie viele unsterbliche wie überflüssige Zeilen, Urkunden, Briefe und Sudelbücher verdanken ihre Existenz allein der Sinnlichkeit des vordergründig antiquierten Materials? Kritzeln, Schmieren, Malen, Zeichnen, Schreiben - der Wechsel der Darstellungsweisen und Gesten bleibt nach wie vor so flexibel, wie es die Software noch nicht ist. Papier kennt keine lästigen Programmwechsel, Formatierungsschwierigkeiten und ist zumindest von Computerviren nicht korrumpierbar. Joseph Beuys' Beschwörungen menschlicher Kreativität auf Kreidetafeln und Papierfetzen machten die direkte Anbindung menschlicher Gestaltungskraft an dieses leichte Medium besonders deutlich.  

II. Die Freiheit fliegender Blätter

Gegenüber der Präzision des Monitors und der Objektivität digitaler Lettern reizt Papier als Medium schöpferischer Prozesse. Der schizophrene Grafomane Adolf Wölfli schuf riesige Panoramabilder vornehmlich mit Blei- und Buntstift, auf denen Schrift, Zeichnung, Collage und Musikfässer mit Noten ineinander schwammen. Diese virtuelle Fabulierkunst ist kaum von der Materialität des Mediums zu trennen. Papier wurde hier zum "synästhetischen" Träger von Multimediainszenierungen vor der Zeit einer vollintegrierten Realisierbarkeit. Aber auch jenseits künstlerischer Notate und Verwendungsweisen bleibt Papier ein zentrales Medium alltäglicher Aufschreibesysteme. Jedes Blatt ist ein kleiner Monitor, flexibel wie ein Laptop, überall zu installieren und schnell wegzuräumen. Für die Ewigkeit oder für den Papierkorb. Kommissar Columbos grotesk kleines Notizblöckchen nebst Bleistiftstummel war oft ergiebiger als die Rasterfahndung. Psychologen, Soziologen und Ergonomiker halten solche Kritzler wie Kommissar Columbo nicht für unverbesserliche Zeitgenossen, die das Königsmedium des digitalen Schreibautomaten noch nicht richtig verinnerlicht haben. Die beiden Sozialwissenschaftler Abigail Sellen und Richard Harper haben in ihrer Studie "The Myth of the Paperless Office" (2001) zahlreiche kollaborative Prozesse beobachtet, bei denen sich Unmengen Papier über gemeinsame Arbeitstische ergießen und Menschen informell auf Papier arbeiten, um besser zusammenzuarbeiten. Erst nach diesen kreativen Passionen, langen Prozessen der Korrektur und wechselseitiger Ergänzung, wandert der Text schließlich in den Computer.

Die Autoren betrachten Papier als ein soziales Medium mit hoher Flexibilität. Der gemeinsame Papierkrieg mache das Interesse der Person an den Aufzeichnungen deutlicher als der stiere Blick auf den Monitor. Die Papierberge auf Schreibtischen, die sanften Hügel und Täler, gebildet aus Büchern, Zeitungen, Notizen sind nicht die Visitenkarten von unverbesserlichen  messies, sondern regelmäßig hochorganisierte Topografien, deren Besitzer mit Leichtigkeit - ohne Suchfunktion und Index - Informationen finden. Papierstöße gelten den beiden Papierforschern als atmende, lebende Archive.

Paradox gesagt verkörpern die Schreibtischhalden gerade die Flüssigkeit, Unabgeschlossenheit und Komplexität des Denkprozesses. Was auch im Kopf noch nicht organisiert ist, genießt die Freiheit fliegender Blätter, die schöpferische Planung vor ihrer Systematisierung. Die Stöße und Stapel seien Metaphern der Gehirnlandschaften. Sellen und Harper beobachteten Ordner mit aller Art von idiosynkratischen, höchst persönlichen Aufzeichnungen, die nur den Herstellern und Eingeweihten sinnvoll erscheinen.

Nicht das papierlose Büro, sondern nur die Archivierung von weniger Papieren ist die Lösung. Historisch ist das nicht ohne Ironie. Verband sich doch im 19. Jahrhundert mit dem Papier die Idee der systematischen Organisation. Buchhaltung, Geschäftsreporte, tägliche Arbeitsberichte entsprangen einer Schriftkultur, die der Mündlichkeit der Übermittlung nicht vertraute. Mit Kohlepapier und Schreibmaschine, später dem Fotokopierer, wurden die produktiven Effekte des Papiers enorm gesteigert.

Melvil Dewey gewann bei der Weltausstellung von 1893 eine Goldmedaille für Hängeregistraturen, die horizontal unübersichtliche Häufungen gegen den vertikalen Zugriff auf Dokumente austauschten. Für den Computerwissenschaftler David M. Levy ("Scrolling Forward: Making Sense of Documents in the Digital Age", 2001) war Dewey der Anti-Walt-Whitman seiner Zeit, der nicht wie dieser die Schönheit und Unmittelbarkeit der Gegenstände hinnahm, sondern sie standardisierte, ordnete und in Form brachte. Die Idee des 19. Jahrhunderts, das Papier zu bändigen, in Schubladen, Heftern und Registern auf alle vorläufigen Ewigkeiten hin zu zähmen, ist in unsere digitalen Ordnungssysteme geflossen. Da die Speicherkapazität von Papier armselig ist, ist diese Funktion des klassischen Papiers unwiederbringlich dahin. Mit den beschriebenen Vorzügen des Papiers wird das System der Zukunft aber nicht das papierlose Büro werden, sondern als kreativ chaotisches Interface zwischen digitalen und analogen Aufschreibesystemen erhalten bleiben. Das also Leser, was Du gerade vor Dir siehst. Mit anderen Worten: "The mark of the contemporary office is not the file. It's the pile."

Anachronistisch sind mithin nicht die Papierstöße, sondern die inflationären Software-Werbungen, die unsere gelben Posties, unsere Schmierblätter und inflationären Zettelwirtschaften ins mediale Abseits abdrängen wollen. Zettels Albtraum ist die entchaotisierte, kreativitätstötende Oberfläche von Monitoren und glatten Arbeitsflächen. Die Flips und Strips auf und neben, über und unter dem Monitor bleiben die Referenz an menschliches Organisationschaos oder Chaosmanagement, das ja auch Unternehmensberater Betrieben als unabdingbar für ihre produktive Zukunft verschreiben.

Nach den beiden Papierwissenschaftlern besteht das Problem zukünftig nicht darin, weniger Papier zu verwenden, sondern weniger Papier zu archivieren. Papier erhält sich dann als schöpferischer Werkstoff - eben nicht für die Ewigkeit, sondern für die Idee des Moments. Somit werfe ich die handschriftlichen Skizzen zu diesem Text jetzt weg. Quod erat scribendum.  

[1] Edward Tenner (1997), S. 298.

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