Zundelfrieder
und
der Rest
der coolen Gang
in
Zeiten der Globalisierung
Der
weitgehend vergessene Moralist Antoine de Rivarol betrachtete in seinem
politischen Journal eines Royalisten, das die Zeit vom 5. Mai bis 5.
Oktober 1789 umfasst, die revolutionären Ereignisse in Paris. Rivarol
litt mächtig unter der gewalttätigen Demontage des Ancien Régime.
Unerträglich ist ihm der „Pöbel“: Marktweiber, Kriminelle,
Lumpengesindel. Er kann nicht begreifen, dass die ehrenwerte Leibgarde des
Königs keinen Widerstand gegen dieses Pack leistet und sich lieber
erschießen lässt. Wie kann man sich das Gesetz des Handelns von diesem
Abschaum diktieren lassen? Der gegenwärtige Adel ist nur noch ein
bleiches Abbild seines einstigen Glanzes. Der Patriotismus der Aufständischen
sei nur ein ideologisch billiger Trick, die Diktatur des Pöbels zu
rechtfertigen. Vor dem Hintergrund einer so paradigmatischen wie
bluttriefenden Bemerkung Saint-Justs „Diejenigen, welche ich angezeigt
habe, haben niemals ein Vaterland gekannt…“ wird die
herrschaftsgeladene Auslegung von Blankettformeln zum Apriori des Terrors.
Früher ging es bei nur einem König den Leuten gut, die
„Barmherzigkeit“ funktionierte, nun gibt es unzählige Groß- und
Kleintyrannen, räsoniert Rivarol. Die Menschen schreien schlimmer als je
zuvor nach Brot. Der Pöbel sei indes selbst nur ein Instrument windiger
Kapitalisten und verlogener Figuren wie der des doppelzüngigen Mirabeau.
Der neu entdeckte Patriotismus, den Robespierre rechtschaffenen und
erhabenen Menschen zurechnet, sei die billige Währung, die an den
jeweiligen Wechselkurs der Macht gebunden ist. Paul Lafargue, der
Schwiegersohn von Karl Marx, hatte für den „homme de lettres“ Rivarol
nur Verachtung übrig. „Dieser spirituelle Parasit“ sei
verantwortlich, dass „der Hass vertieft und der Kampf bis ans Äußerste
getrieben“ worden sei. Folgt man dem „Neger“ (Marxens Terminus für
seinen Schwiegersohn) Lafargue und den Vertretern einer
„wissenschaftlichen“ Theorie des Klassenkampfs, gibt es historisch
gesetzmäßige Verlaufsformen. Stellt man sich dem in
den Weg, wird nur das Blutbad vergrößert. Aber wie sollte das Rivarol in
der aktuellen Situation erkennen? Und ist es überhaupt wahr? Wäre nicht
ein beherztes Eingreifen der Royalisten und der königstreuen Truppen
erfolgreich gewesen, so wie es Rivarol behauptet. Angst sei ein schlechter
Berater. Dann wäre die glorreiche französische Revolution eine bloße
Revolte geblieben. Der Pöbel wäre „niederkartätscht“ worden, so wie
es Napoleon ohnehin als probates Mittel zur Behandlung von Volksaufständen
ansah. Es hätte einige sozialstaatliche Verbesserungen gegeben und die
Eigentumsordnung wäre weitgehend unangetastet geblieben. Histomat und
Diamat hätten sich auf dem Bahnhof der Geschichte noch ein bisschen die
Beine vertreten müssen. Virtuelle Geschichtsschreibung vermag aus
Revolutionen Revolten zu machen und vice versa aus Revolten Revolutionen.
Ob Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaat der Geschichte
letzter Schluss sind, ist auch heute nur für die entschieden, die das
Telos der Geschichte bereits kennen, also die Verfassungstreuen nicht
weniger als die Aufständischen mit der fragmentarischen
Gebrauchsanweisung. „Das Warten auf die revolutionäre Situation und das
unvermeidliche und verhängnisvolle Zögern, wenn sie eingetreten ist, gehören
nach den Erfahrungen der Volkskriege einer vergangenen, noch unreifen
Epoche der Revolutionsgeschichte an“, schrieb wie immer besserwisserisch
die RAF 1971. Es sei ihnen egal, ob das „reines Abenteurertum“, „Blanquismus“,
„Putschismus“ oder „Anarchismus“ genannt werde, wenn sie nur der
Revolution in Deutschland einen Schritt näher kämen. Sie glaubten sich
nicht nur der Revolution, sondern vor allem dem revolutionären
Hexenmeister Lenin nahe, der ähnlich gegenüber seinen Kritikern aus dem
eigenen Lager konstatiert hätte, derlei Vorbehalte gegen die Aktion seien
„unrichtig, unhistorisch und unwissenschaftlich“. Die bornierte
Ignoranz dieser historischen Rückversicherung lag ähnlich wie bei der
französischen Gruppe mit dem hochsignifikanten Namen „Action Directe“
darin, die Tat vom Misstrauen gegenüber den revolutionstauglichen Verhältnissen
freizusetzen. Das ist blanker Voluntarismus, so wenig der andere Glaube, nämlich
jener an die Kraft der wissenschaftlichen Analyse, die Verhältnisse
revolutionär zu transzendieren, schon besser wäre. Auch jenseits von
Revolutionstheorien, die seit Hegel glauben, auf die Notwendigkeit der
Geschichte wissenschaftlich bauen zu können, um sich des Siegs schon vor
der Schlacht zu vergewissern, wollte man nicht ohne höhere Gewissheit
losschlagen. 1830 malte Eugène Delacroix anlässlich der Julirevolution in Paris
die berühmte Allegorie „Die Freiheit führt das Volk“. Die Spontaneität
der Bewegung folgt einer Ordnung von patriotisch-bacchantischer Führerin
und fast monochromer Masse. Die Allegorie mutierte zur Ineinssetzung von
Freiheit und Notwendigkeit, was Hannah Arendt als das furchtbarste Paradox
modernen Denkens erschien. Allerdings ist dieses Paradox eine alte
Kondition, wenn doch Menschen
ihr Tun immerfort gegen die Schicksalshaftigkeit und Kontingenz
versichern. In der Bewegung zwischen erregtem Aktionismus und
providentiellem Heilswissen, ähnlich dem Spannungsfeld von tätiger Nächstenliebe
und automatisierter Gnadenlehre, bewegt sich seit je der revolutionäre
Elan. Gotteskrieger repräsentieren die Identität dieser beiden Pole,
wenn gottgewolltes Tun und heiliges Schriftwissen jedes Handeln zum
Gottesdienst werden lassen. Da es Gottes Ratschluss ist, gibt es keine
eigene Entscheidung, keinen echten Gewissenskonflikt und auch keine
wissenschaftliche Analyse. Klassische Strategen von West bis Ost, die dem
„kairos“ vertrauen wollen und die Aufklärung über den Feind für das
Hauptgeschäft halten, treibt diese Selbstgewissheit in den Wahnsinn. Jede
Rede vom Aufstand, der kommen wird, der alles anders werden lässt, der
als Superkompensationsinstanz für das Ungenügen der Wirklichkeit
aufkommt, besitzt mehr als Spurenelemente messianischen Eiferertums, das
zwischen Gottvertrauen und Ignoranz nicht trennscharf entscheiden will.
Situationistische Legitimationen
Der
„kommende Aufstand“ des angeblich unsichtbaren Komitees liest sich
mutatis mutandis wie das déjà-vu situationistischer Pamphlete. Hier
entsteht heute wie damals der revolutionäre Mehrwert dadurch, Politik,
Kunst und Alltag in ein durch zahllose Achsen verbundenes
Befreiungsprojekt mit mehr oder weniger hohem Gewaltanteil zu integrieren.
Diese Transgression vormals geschiedener Sphären in eine ästhetisierende
und totalisierende Weltsicht beginnt vielleicht mit der Romantik, hat
einen pointierten Höhepunkt im russischen Prolet-Kult (Kunst=Leben) und
wird von verspielteren Varianten in Dadaismus, Surrealismus und schließlich
von den Jugendkulten seit 1967 mit Macht aufgegriffen. Es sind die „ästhetischen
Gegenwelten“ (Cornelia Klinger), die auch dem Kampf ein neues Motiv
liefern, seitdem die transzendenten Rückversicherungen so fragil geworden
sind.
„Objektiv
ist die Situation schon reif für eine neue Revolte“ schreiben im März
1980 die SDS-Historiker Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker im
leicht wehmütigen Rückblick auf die 68er, so sei doch gerade im
Bildungswesen vieles im Argen. Das ist ein „running gag“ jeder
Revolutionstheorie, die immer „um das nahe Bevorstehen eines neuen
Beginns der Revolution“ weiß – wie es 1977 René Viénet auch den
„Wütenden“ und „Situationisten“ von 1968 bescheinigte.
Viénet redete von einem bedrohlichen Programm, das “den Tod aller
bestehenden Regime proklamiert”. Der “Schlaf aller Herren der Ware”
wäre nun beendet “und nie wieder würde die spektakuläre Gesellschaft
ruhig schlafen können.” Auch die unsichtbaren Manifestierer des
„kommenden Aufstands“ gehen von der fetischistischen Waren- und
Spektakelgesellschaft aus, also von jener altbekannten Matrix, deren Kabel
wir nur aus unseren realen Körpern reißen müssen, um aufzuwachen. Der
kategorische Imperativ der revolutionären Ethik lautete damals wie heute
„Ich nehme meine Wünsche für die Wirklichkeit, weil ich an die
Wirklichkeit meiner Wünsche glaube.“ Bei aller Liebe zur Dialektik ist
das für die Vermittlung von objektiven Umständen und revolutionärer
Selbstgewissheit zu wenig. Karl Marx wusste es besser: „Es genügt
nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss
sich selbst zum Gedanken drängen."
Der
„kommende Aufstand“ wohnt zur Untermiete bereits im Paradies. „Nicht
die Revolte an sich ist edel, sondern das, was sie fordert, selbst wenn,
was sie erreicht, noch gemein ist.“ Das unsichtbare Komitee schwärmt
von der „Unterbrechung der Warenflüsse“, der „Aufhebung der
Normalität“, die wieder Leben in ein stromloses Mietshaus brächte, als
würden wir per Unterversorgung rousseauistisch in das Paradies der Brüderlichkeit
geführt. Das Lied von der Selbstorganisation der Menschen, die sich
endlich wieder emotional näher kommen, mag an vielen irdischen Höllenorten
seine Wahrheit reklamieren. Was diese „Unsichtbaren“ wie weiland die
sichtbaren Aufständischen je aus ihrem Kalkül ausblenden, das ist die
Fragilität des revolutionären Subjekts, das seine Parzellierung genauso
erfährt wie jene Bürger, die als Sozialautisten etc. als Zerrbilder des
wahren Menschseins, als Negativfolien des nicht länger entfremdeten
Menschen herhalten müssen. Auch der kommende Aufstand vermag das
Solidarisierungsapriori divergenter Gruppen und die Konsistenz des
Subjektbegriffs nicht plausibel zu erläutern, was jenseits von
nassforschen Flugschriften die postmarxistische Theorie schon lange
umtreibt. „Und ebenso unmöglich ist es, dass sich irgendwelche
ernsthafte Meinungsverschiedenheit darüber geltend machen könnte, dass
wir über alle Welt hinaus dem Proletariat zurufen: „Wir wollen sein ein
einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr!´“ Karl
Liebknecht formuliert hier das alte Überlastungsskript
gegenüber dem Subjekt, das – wie es seinem Namen entspricht – dem
emanzipatorischen Programm unterworfen wird und als revolutionäres
Metasubjekt reüssieren soll. Es wird
zur strukturellen Ironie des Politischen, jederzeit Identitäten,
Mehrheiten und in Überblendung aller Partikularitäten immer wieder das
Universelle selbst einzufordern. Wenn universal nach Alain Badiou nur das
ist, „was sich in immanenter Ausnahme befindet“, werden wir Zeugen,
wie diese Theorie fragile Subjekte des politischen Double-bind produziert,
die revolutionär nicht zuverlässiger erscheinen als das vormalige Aufklärungssubjekt
oder der kurz danach erscheinende Proletarier, dessen Reanimierbarkeit
weiterhin unverdrossen behauptet wird. Das unsichtbare Komitee findet
diesen hochsolidarischen Sehnsuchtsort der Menschwerdung in der Kommune,
weil sie „bewirkt, dass wir „wir“ sagen, und dass dies ein Ereignis
ist.“ Klar:
„This is a mean old world, baby to live in by yourself.“ Die
Kommunion der Deklassierten rückversichert sich über die großen
Augenblicke der Pariser Kommune von 18. März 1871 bis 28. Mai 1871. Arthur
Rimbaud, nach
Albert Camus “der Dichter der Revolte und ihr größter”. feiert
den Aufstand der Pariser Kommune, an dem er auch teilnahm, mit „L'orgie
parisienne ou Paris se repeuple“.
Das unsichtbare Komitee ist gedanklich und topografisch auch in Paris
angesiedelt, was vormals zu größter Hoffnung Anlass gab, beschied doch
Antoine de Rivarol, dass hier die „Vorsehung“ stärker ist als
anderswo.
Die
revolutionäre Megaerzählung ist eine transhistorische Be- wie Verschwörung,
die großen Momente des Aufstands, des Kampfs, der Siege und Niederlagen
zu einer notwendigen Weltrettungsmission zu verkoppeln. Der Blick über
die Barrikaden markiert die Grenzen der Vergleichbarkeit bis hin zum
unfreiwillig komischen Eingeständnis: „Die Pariser Kommune hatte das
Problem der Datenspeicherung teilweise gelöst: Mit dem Niederbrennen des
Ratshauses zerstörten die Brandstifter die Archive der Zivilverwaltung.
Eine Möglichkeit elektronische Daten auf immer zu zerstören, muss erst
noch gefunden werden.“ Eben. Das taktisch-strategische Vademecum, das
kleine feuerrote Buch der Revolution auf allen Ebenen des Netzes müsste
erst noch geschrieben werden. Die kommenden Aufständischen operieren noch
sehr in handgreiflicher Direktkommunikation, ohne die neuen Fronten einer
intrikaten Informationsherrschaft mehr als nur zögernd zu berühren.
Die
Praktiken von 1968 und 2005 werden sehr ähnlich beschrieben, ohne
irritiert zu sein, dass seinerzeit doch offensichtlich verfehlt wurde, was
nun wieder als brandheiße Revolte vorgestellt wird. „Burn, warehouse
burn“ „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme
vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergießen. Ab heute
geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka
oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der
Ankleidekabine an.“ (Kommune I, 24.05.1967) Das heißt pyrotechnisch für
das Banlieue von 2012 übersetzt bzw. entfacht: „Das Promethische dabei
besteht und lässt sich zusammenfassen in einer gewissen Aneignung des
Feuers“. „Gewiss“ heißt für das unsichtbare Komitee: „Alle sind
sich einig. Es wird knallen“. „Als es gegen Mittag knallte, machten
wir uns nicht viel daraus. Das waren wir seit mehreren Tagen gewöhnt“
schildert Ulrich Enzensberger die Reaktion der Verkäuferinnen des Brüsseler
Warenhauses „L'Innovation“.
Intermezzo: Im Dschungel der Städte
Der
Grafiker Frans Masereel schuf nicht nur mit „Die Stadt“ (1925) ein
beeindruckendes Panorama des modernen Großstadtchaos, sondern entfaltete
1921 in dem wenig bekannten „Grotesk Film“ die moderne Unübersichtlichkeit
des städtischen Lebens noch erheblich drastischer. Alle Gegensätze der
Wirklichkeitskonstitution, Innen- und Außenwelt, Licht und Schatten,
Reichtum und Armut, Schönheit und Hässlichkeit verflechten sich zu einem
unentwirrbaren Gespinst metropolitaner Nachkriegsexistenzen, indem die
vormalige Ordnung geschiedener Dinge als ideologisches Konstrukt
denunziert wird. In solchen Grotesken geht es nicht nur um Synästhesien
oder bloß ästhetische Vorstellungen literarischer Multiexistenzen oder
gar Dandys, sondern um Wirklichkeitsbeschreibung. Das täglich
durchlittene Chaos urbaner Durchdringungen ist der ideale Ort des
Widerstandskämpfers, weil sich hier das Helldunkel von Bürgerlichkeit
und Verbrechen auflöst. Das urbane Gelände wird zur neuen alten
Kampfzone ausgeweitet, wo Pflastersteine als Projektile dienen und ganz
nebenbei der Strand freigelegt wird, wo die Bewegung der Aufständischen
sich nicht an den Wegen, Durchgängen oder der vorgegebenen Logik des
Betretens und Verlassens von Häusern orientiert. Der Revolutionär fräst
sich gleichsam durch die entfremdete Architektur, dekonstruiert sie, indem
er die strategischen Prämissen für den Kampf schafft. Eine schöne Idee
ist die von den Unsichtbaren formulierte Multi-Layer-Kampfzone, eine
mikropolitische Überschreibungs- und Überlagerungsstruktur, die den
Kampf vielleicht mit Niklas Luhmann als Steigerung der Komplexität
definieren könnte. Die „gute Polizey“ findet in dieser rhizomatischen
Struktur von Passanten, Bewohnern, Händlern etc. nicht mehr den
Terroristen vor lauter Räumen. Die kommenden Aufständischen berufen sich
auf den frühen „Stadtguerillero“ Louis-Auguste Blanqui, so wie zuvor
die Situationisten von Straßenumbenennungen bis hin zur Korrektur der
„Haussmannschen Perspektive der Boulevards“ schwärmten. Man möchte
Nicolas Chauvin auf das patriotische Streckbett der Revolution legen: Was
ist es doch für eine Lust, ein Revolutionär zu sein. „Masken“
empfiehlt uns das Komitee, das nicht nur sein strategisches Paradigma in
der Unsichtbarkeit findet, sondern durch die Depersonalisierung seine
erhabene Botschaft objektivieren will. Auch das ist nicht neu. Spontaneität
hieß für die Situationisten die „Bewegung ohne Führer“, während
Leute wie Daniel Cohn-Bendit die scheinbaren Führer seien, die
„Chefs“, nach denen die Medien der Spektakelgesellschaft gierten, um
ihre aufdringlichen Geschichten zu erzählen (René Viénet). Das
dezentral und in unabhängigen Zellen weltweit operierende Rhizom „Anonymous“
(We are Anonymous. We are Legion.
We do not forgive. We do not forget. Expect us!”) führt dieses
Kollektivverständnis schon im Namen. „Anonymous“ agiert im und
jenseits des Netzes gegen Machtformationen aller Art, angefangen bei
Scientology bis hin zur australischen Regierung und gegenwärtig gegen
Finanzunternehmen, die Wikileaks von den warmen Geldströmen
„abgeknipst“ haben. Leben wir also in vorrevolutionären Zeiten?
„Wir
haben sie so geliebt, die Revolution“
(Daniel Cohn-Bendit)
Hannah
Arendt unterscheidet plausibel zwischen Rebellion als Befreiung und
Revolution, „wo das Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit
Freiheitsvorstellungen verknüpft ist“ die darauf gerichtet sind, einen
konstitutiven Neuanfang einzuleiten. Per se wird damit Idee der Revolution
in ihrem Vollzug aufgehoben. Insofern frisst die Revolution nicht nur ihre
Protagonisten, sondern läuft als autokannibalischer Vorgang ab, was Leo
Trotzki motiviert haben könnte, „den permanenten Charakter der
Weltrevolution“ einzufordern. Denn der schlimmste Verlust für den
Revolutionär ist das Ende der Revolution, was den Freiheitskampf dann in
die „Despotie der Freiheit“ (Maximilien Robespierre) überführt.
Die
Präzision der Unterscheidung kann insoweit bezweifelt werden, als Aufstände,
Rebellionen und Revolten sich a posteriori als Initiation einer Revolution
erweisen können. Revolten welcher Qualität auch immer setzen objektive
gesellschaftliche und ökonomische Umstände voraus, von denen – der längst
nicht gefestigten Theorie nach - allenfalls einige bekannt sind.
„Revolution ist machbar, Herr Nachbar.“ Von wegen. Für Hannah Arendt
stellt sich das eher anders herum dar, dass nämlich Revolutionäre dann
zur Stelle sind, wenn das System angeschlagen ist oder zusammenbricht. Dem
folgt das „unsichtbare Komitee“, wenn es heißt, dass man sich auf die
Zusammenbrüche vorbereiten muss. Wäre es so und wenig spricht dagegen, wäre
die selbstgefällige Befreiungsideologie von Revolutionären eine
Verwechslung von Ursachen und Wirkungen. Jede fehlgeschlagene Revolte –
und das ist, wenn es nicht zur Revolution kommt, ihr wahrscheinliches
Schicksal – wäre eine seismische Schwäche, die Verhältnisse und
Energieformen der Macht nicht richtig zu spüren. Ein Mann wie Andreas
Baader war deswegen als Revolutionär ein Versager, weil sich in seiner
fantasmatischen Konstruktion jederzeit narzisstisch aufgeladene Wünsche
über politische Wahrnehmungsmöglichkeiten hinwegsetzten. Langsam
erkennen wir: Revolutionäre sind weniger Menschen der Tat, als die sie
erscheinen (wollen). Die politische Wahrnehmungsintensität ist ihre
hervorstechende Eigenschaft, so wenig das von einer sinnstiftenden
Geschichtsklitterung sauber zu unterscheiden ist. Das stürzt Revolutionäre
in ein nicht geringes Dilemma: „In der Praxis muss der Mensch die
Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens
beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des
Denkens - das von der Praxis
isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage.“ Dieser in der zweiten
Feuerbach-These von Karl Marx formulierte Imperativ verkoppelt Handeln und
Wahrheit unverbrüchlich, was nicht nur den Revolutionär zwingt, erst im
Handeln zu erkennen, ob sein Handeln richtig ist. Das ist explosive
Dialektik, während das Kristallkugelwissen der Weltrevolution im Übrigen
so völlig undurchsichtig bleibt. Hier liegt der wahre Freiheitsgewinn für
Revolutionäre, mit den Kontingenzen ihres Handelns umzugehen. Louis
Antoine Léon de Saint Just brachte es am 5. Februar 1794 vor dem
Nationalkonvent auf diesen Punkt: „Die Republik aufzubauen bedeutet die
völlige Zerstörung dessen, das ihr entgegensteht.“ Viel Zeit blieb ihm
nicht mehr, der radikalen Dialektik dieser Revolutionslehre zu folgen. Fünf
Monate später wurde er selbst als Hindernis der patriotischen Republik
auf der Guillotine zerstört. Immerhin hatte der Jurist auch dafür plädiert,
dass die Friedhöfe überfüllt sein sollten, was eben das faschistische
Ideal mit dem psychopathischen Persönlichkeitsprofil kurzschließt. In
einer apologetischen Biografie des eiskalten St. Just heißt es später:
“Robespierre wusste ihn zu würdigen und zog ihn nicht aus persönlicher
Zuneigung, sondern im Interesse der ganzen Menschheit an sich. Dies Gefühl
entflammte und verband sie mit einander, bis zum Tod.“ Die Revolution
frisst deshalb ihre Kinder wie Saturn, weil Revolutionäre „im Interesse
der ganzen Menschheit“ operieren und St. Just selbst seinem Meister die
übertriebene Erregung nicht nachsah. Weder Gott noch die Menschheit haben
Freude an soviel revolutionärem Gemeinsinn, der eben just jene Kälte
verbreitet, die also nicht nur als das Grundmedium der bürgerlichen
Gesellschaft erscheint, das Theodor W. Adorno anprangerte.
Wie
Schriften dieser Art immer leidet die Flugschrift daran, die
Absorptionskraft des Systems, in der so rigiden wie naiven Diktion der
RAF: „Schweinesystem“, im fröhlichen Voluntarismus und düster
skizzierten Menetekel nicht weiter bemühen zu müssen. „I Am What I
Am“ ist zwar ein elendiger, zu Rest kritisierter Dumpfspruch der Werbung
für Reebok, der auf das System und seine Ideologie zurückfällt, aber
dahinter stehen erheblich elastischere und intrikatere Strukturen
gesellschaftlicher Befried(i)gung, als sie Aufständische ertragen können.
Louis-Auguste Blanqui, ein Gewährsmann des unsichtbaren Komitees, schrieb
in seiner nationalökonomischen Betrachtung des Luxus: „Sire Kapital ist
eine Macht ohne Gegengewicht, keine Gewalt ist ihm ein Hindernis.“ Und
kein Geringerer als Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“), der
sich gegen den Humanismus seines Lehrmeisters Jean-Paul Sartres richtete,
traf sich in seiner revolutionären Selbstbeschreibung punktgenau mit der
Reebok-Werbung: „Ich bin keine Potentialität von irgendetwas, ich bin
voll und ganz das, was ich bin. Ich brauche das Universelle nicht zu
suchen.“ Das löst das revolutionäre Double-bind nicht auf, einerseits
gemäß der Deutschen Ideologie ein „wirkliches Individuum“ zu sein,
andererseits eine politische Subjektivität zu konstituieren, die
notwendige Solidarisierungsressourcen bereithält, die nicht im eigenen
Vorgarten enden.
Die Prämisse der
Ausweglosigkeit der Gegenwart und dass alles nur noch schlimmer werden könne,
ist so abgenutzt, wie es der ewige Gebrauch dieses vorgeblichen Wissens
nahe legt. Die „Verdammten dieser Erde“ stimmten dieses Leidmotiv mit
mehr Plausibilität an. Die Flugschrift folgt dagegen einem fast pastörlichen
„Alles wird schlechter-Dogma“, das durch das Globalisierungsparadigma
dann in apokalyptische Farben getaucht werden soll. Oder wie sind solche kümmerlichen
Erkenntnisse zu verstehen: „Innerhalb eines Jahrhunderts sind Freiheit,
Demokratie und Zivilisation auf den Zustand von Hypothesen reduziert
worden.“ Und vorher? Von welcher Freiheit, Demokratie und Zivilisation
ist im Blick auf die Vorkriegsgesellschaft des ersten Weltkriegs die Rede,
die nicht nur blutlüstern auf den Ernstfall hoffte, sondern auch unter
den seinerzeit bestehenden Arbeits- und Produktionsbedingungen ohne größere
Beweisnot als unerträglich bezeichnet werden muss. Gab es nach der
Jahrhundertwende des 20.Jahrhunderts keine obrigkeitsstaatliche
Schlagstockmoral? Wie waren die Partizipationschancen der arbeitenden Bevölkerung
entlang der Hungergrenze beschaffen? Wie zivil war der Gaskrieg? Hier
reiht sich das unsichtbare Komitee in die mit vielen Ressentiments
beladene Tradition der Demokratiekritik ein, die seit Jahren ihr
zweifelhaftes Comeback erlebt.
Ausgeblendet wird bei den Unsichtbaren wie anderen Parteigängern der
Demokratiekritik, dass diese Herrschaftsform noch nie eine Vollgarantie
einer immer gerechter austarierten Gesellschaft besaß. „Vielmehr stellt
sie ein Prinzip dar, von dem wir immer wussten, dass es mit seinem
Gegenteil verwoben ist und dass es unaufhörlich gegen dieses Gegenteil
ankämpft.“ (Jacques Rancière) „Demokratische
Anarchie „erinnert an die Abwesenheit eines letzen Grundes staatlicher
Herrschaft“, was Jacques Rancière mit
Niklas Luhmann verbindet, der wider jene idealistische Überhöhung
eines umfassenden Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzips Demokratie in
der „geteilten Spitze“ des Machtpols „Regierung/Opposition“
erkannte. „Im
vergangenen Jahrhundert hat die Demokratie regelmäßig der Geburt des
Faschismus vorgestanden, hat die Zivilisation nicht aufgehört die Arien
Wagners oder Iron Maidens mit Vernichtung in Einklang zu bringen…“,
erläutern die Unsichtbaren ihr eher schlichtes Verdikt gegen die
Demokratie. Denn die heterogenen Momente der Gesellschaft werden nicht in
einer prästabilierten Demokratie harmonisiert, die der Politik das
Politische austreibt und „Egalität“ frei Haus liefert.
Die Antiquiertheit der Aufständischen
Aram
Lintzel kritisierte die „Flugschrift“, weil sie die seit Jean-Jacques
Rousseau überlieferten, sattsam bekannten und klischierten
Unterscheidungen in das argumentative Zentrum stelle, hier die echten,
nichtentfremdeten Aufständischen und dort die verlogenen Inszenierungen
repräsentativer Demokratie. Zwar erscheint diese unerträglich
strapazierte Formel der Selbst- und Fremdbeschreibung als revolutionäres
Apriori, doch wird das von den Unsichtbaren kaum entfaltet. Den
Kernvorwurf der Flugschrift bilden eher existenzielle Unerträglichkeiten,
die Systemkollaps und revolutionäres Bewusstsein in dem vermeintlichen
Wissen kurzschließen, dass der Preis des Systems für die Vielen zu hoch
ist, um es noch länger zu ertragen. Wahrscheinlich, hoffentlich,
unzweifelhaft? Gewiss, ginge es danach, hätte bereits nach dem ersten
Atemzug der revoltierende Mensch der Schöpfung ein gnädiges Ende
bereiten müssen. Der „Mensch in der Revolte“ (Albert Camus) ist lange
vor der notwendigen Erfindungen des Klassenkampfs ein transgressives
Thema, das metaphysische, fundamental gegen die Konstruktion der
Wirklichkeit gerichtete, bis hin zu alltäglichen Revolten umfasst. Die
metaphysische Revolte ist in jeder Revolte enthalten. Für
Weisungsunterworfene gilt an der Aldi-Kasse genauso wie beim Pyramidenbau:
„Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.“
Im
spekulativen Moment dieses Glaubens müssten die kommenden Aufständischen
nicht nur aufgrund der historischen Vorerfahrungen unsicher werden, da die
Banlieue-Aufstände von 2005 oder Griechenland 2008, nach dem Tod des Schülers
Alexandros Grigoropoulos, längst nicht als Vorboten einer revolutionären
Situation erscheinen, sondern als handfeste, aber temporäre Kritik an
massiven Zumutungen des Systems. René Viénet bescheinigte dem Feuer des
Mai 1968, dass es „nicht wieder verlöschen wird“, was zum suggestiven
Standardreflex jeder Revolte gehört, wenigsten ein früher Fackelträger
der großen Revolution zu sein. Denn allein die Methexis der Revolte an
einer großen Revolutionsidee garantiert ihre höhere Autorität. Was
diesen und anderen Revolutionären so schwer begreiflich ist, ist die
Funktionsweise des Katastrophenmotors der Geschichte, der sich allen
Systemen nur in dieser Weise zur Verfügung stellt. Was hier wie dort
nicht „kapiert“ wird, ist die metaphysische Fehlschaltung der
Freiheits-, Gerechtigkeits-, und vor allem Paradiesprospekte, die in jeder
gesellschaftlichen Konstruktion mit einiger Prominenz auftauchen. Der
wirkliche Feind der Revolution ist nicht der Kapitalismus oder irgendeine
perfide Herrschaftsform, sondern die heimliche-unheimliche Vermutung, dass
hinterher alles genauso sein wird wie bisher. Der Sehnsuchtsstoff reicht
dann gerade mal für die Revolte, bis der Geruch der Kommunarden, die ewig
alten Herrschaftsgelüste und alle anderen Schrecken der menschlichen
Grundfassung eben die Penetranz besitzen, die Lust auf das Paradies
mindestens ebenso zu verderben wie den fröhlichen Aufenthalt in der Hölle
- was topologisch auf eins hinauslaufen könnte. Die also von den
kommenden Aufständischen schreckenspathetisch unterbreitete
Sieben-Kreis-Theorie der Hölle als Aufstiegsszenario weist dieselbe Schwäche
auf wie das dantische, die Schrecken sind wie immer greifbar, das Paradies
ist dagegen von blasser Blütenfarbe. Der siebte Kreis
ist für die „Gewalttätigen“ reserviert, hier am Rande der inneren Hölle
entscheidet sich dann vorgeblich der Kampf.
Was
bleibt von diesem kommenden Aufstand? Wir begegnen den Nachwehen des „Anti-Ödipus“,
der „mille plateaux“ und ähnlichen ästhetisch-politischen
Durchkreuzungsliteraturen, die euphorisch feiern, was die conditio humana
nicht hergibt. Hier werden expressive Abgesänge auf tradierte soziale
Strukturen angestimmt, als wäre die Ehe ein intaktes Sakrament, deren
Solidität eben erst in Zweifel gezogen worden wäre. Die Auflösung der
Geschlechterrollen, die da etwa nachgefeiert wird, ist müder
Traditionsbestand der Postmoderne und alles andere als neuer revolutionärer
Erregungsstoff. Hier feiert sich zugleich die Punk-Moral der achtziger
Jahren: „…lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser
anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften
zu klauen.“ Radikal ist anders. Eine wirkliche Radikalität wird sich
nicht da vollziehen, wo die politische Theorie
oder ihre Verfallsformen ihre alten Ansprüche im Schritt zur Sonne, zur
Freiheit oder gar in wahnsinniger Liebe, die das Komitee prophezeit, einlösen
wollen. „Wikileaks“ hat mehr Chaos und Aufklärung produziert, als
sich Ostermarschierer, Ökobewegte oder Hausbesitzer in ihrem
Aktionismus je erträumt hätten, was die WELT-online zum Ausruf
veranlasst, Julian Assange sei der „Che Guevara im Internet“.
Politische Bewegungen sind Netzbewegungen oder gar nicht! Das ist, wie es
die „distributed denial-of-service attacks“ von „Anonymous“
belegen, reale Macht von unten. Von diesem Geist weiß der „kommende
Aufstand“ wenig zu berichten. Der Informationsguerillero wird zum
Protagonisten der direkten Konfrontation mit staatlicher oder
gesellschaftlicher Macht, während die klassische pyrotechnische Abteilung
selbst in ihrer eigenen Logik seit je das Legitimationsproblem hatte, ihr
gemeingefährliches Spielzeug auf Sachen zu beschränken.
Epilog
Antonie
de Rivarol, der schließlich selbst vor der gefräßigen Revolution
fliehen musste, brachte es für alle Aufständischen, Revolutionäre und
Kombattanten auf die Formel: „Die Politik erinnert an die Sphinx der
Fabel: sie verschlingt alle, die ihre Rätsel nicht auflösen.“ Eines
dieser Opfer war Guy Fawkes. Der König ließ ihn nach der Aufdeckung des
geplanten Anschlags am 5. November 1605 foltern. Der Verschwörer gestand
daraufhin die Tat und benannte seine Kumpane, die teilweise viehisch
hingerichtet wurden. In der Schlussszene des Films „V for Vendetta“
gelingt dagegen endlich - nach 400 Jahren Wartezeit - der Anschlag. Das
britische Parlament wird pulverisiert – kinematographisch. Gegenwärtig
erscheinen die Akteure von „Anonymous“ oft mit den dem Comic „V wie
Vendetta“ entlehnten Masken, die dem Gesicht des Gunpowder
Plot-Konspirators Guy Fawkes nachgebildet sind. Offen bleibt, ob nun die
virtuell-cineastische Variante oder der reale Rohrkrepierer die Rebellen
in Zukunft bezeichnen wird. Die selbstgewählte ambivalente Kondition der
Unsichtbarkeit birgt jedenfalls mehr höhere Ironie, als die Aufständischen
wie alle ihre Vorfahren in ihrer jeweilig historisch notwendigen Mission für
erträglich halten.
Goedart
Palm
Auch eine Subjekttheorie: Jeder Jeck ist anders. Alaaf.
Der schreckliche Brand am 23. Mai 1967, dem über 300 Menschen zum
Opfer fielen, wurde zum Gegenstand von Spekulationen, es habe sich um
einen terroristischen Anschlag gehandelt.
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