Mit Empire haben Michael Hardt und
Antonio Negri eine Analyse des postmodernen, globalen Kapitalismus
vorgelegt, die in der gleichzeitig entstehenden global vernetzten 'Multitude'
den Hoffnungsträger des transnationalen und virtuellen Widerstands
entdeckt, durch den der Moloch des Empire sich schließlich selbst zu
Fall bringt. Doch ist das vorgestellte (post)marxistische
Theorieinstrumentarium tatsächlich so neu wie es sich gibt, und kann
die 'Multitude' so problemlos zum Subjekt einer besseren Welt
avancieren, wie Hardt und Negri es sich wünschen? Ein Blick auf
Geschichte und Geschichtsphilosophie sowie auf die real existierenden
Interessenskonflikte der globalen Wirklichkeit lässt dies bezweifeln.
Globalisierung und Virtualisierung
sind zwei simultane Prozesse einer historischen Dynamik, die ihren
Kritikern zufolge die hässliche Macht des Kapitals, das prinzipienlose
Prinzip 'Global Brutal', die inhumanen Ein- und Ausschließungsfunktionen
des Profits in höchster Potenz entfalten. Globale Ökonomie und
Cyberspace, die virtuellen und realen Orte von Produktion, Konsumtion
und Geldzirkulation sind heimatlose Sphären, die das klassische Bild
nationaler Staaten und liberaler Gesellschaften überlagern und
vielleicht schon bald auflösen. Also doch das Ende des Politischen?
Noch nicht! Denn ob der Kampf um die Prospekte der Globalisierung oder
um die Konstitution kommunikativer Verhältnisse geführt wird, immer
geht es um politische Fragen von Macht und Gegenmacht, um die Konflikte
von Kapitalinteressen und Weltbevölkerung, um Informationsherrscher und
Informationssubjekte. Was wollen die Gegner einer falschen, inhumanen
Globalisierung? Eine Ökonomie mit menschlichen Zügen ohne Raubbau an
der Natur und wachsenden Scheren in der Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums zwischen Norden und Süden. Propagiert wird
eine globale Wirtschaftsethik, die den wilden Geld- und Devisenströmen,
den Kapitalfluchten, den manipulierten und doch unvorhersehbaren
Kapitalmärkten und Börsenschwankungen Einhalt gebieten soll. Auch
solle sich die Politik gegen das Ökonomische wieder durchsetzen, weil
doch zumindest hier die Macht vermutet wird, dem schändlichen Profit
over People (Noam Chomsky) Einhalt zu gebieten.
Michael Hardt und Antonio Negri
haben in Empire – die Neue Weltordnung den Finger tief in die Wunde
des postmodernen Kapitalismus gelegt, der sich seit dem Ende des real
existierenden Sozialismus als der differenzlose Zustand einer totalen
Globalisierung vorstellt. Dass sich die Geschichte in eine
Nachgeschichte auflöst, wie es Francis Fukuyama proklamierte,
widerspricht mehr denn je einer Welt, die nun den manichäischen Kampf
gegen den globalen Terrorismus, Schurkenstaaten, und nichtdemokratische
Systeme führen soll und – expressis verbis (US-Präsident G.W. Bush)
– selbst vor einem Kampf der Ideen nicht zurückscheut, der sich von
einem Kampf der Kulturen nicht mehr trennscharf unterscheidet. Es ist
den einen nicht gegeben, geschichtslos zu sein, während die anderen
Geschichte machen wollen. Aber liegt in diesem neuen alten Kampf
zwischen Guten und Bösen die wirkliche Frontlinie der Geschichte oder
sind das nur Schatten- und Stellvertretergefechte der so wechselvollen
wie perennierenden Konfliktgeschichte zwischen Kapital und Arbeit?
Virtuelle Akteure
Den Globalisierungskritikern geht es
längst nicht nur darum, in der Virtualität allein ein Ensemble
medialer Möglichkeiten zu definieren, wie es etwa einem großen Teil
der Medientheorie angelegen ist. Das Virtuelle markiert vielmehr den
entscheidenden Kampfabschnitt um die Schnittstellen der realen Macht.
Die Theoretiker des 'Empire' verstehen das 'Virtuelle' als ein Set von
Handlungsmöglichkeiten der Menge (the multitude), das sich durch
lebendige Arbeit realisiert. (E 364 ff) Sie fordern für die mobile
Menge eine "globale Staatsbürgerschaft", die endgültig den
Repressionsmechanismen widersteht, die im Diktat von Nation, Identität,
oder Volk entstehen. Diese Virtualisierungen einer befreiten Menschheit
fanden sich zuvor in den Begriffen der internationalen Arbeiterklasse,
des Proletariats, der Wütenden und Situationisten, der spontanen Aktion
selbstbewusster Massen. Nicht der kosmopolitische Staat bzw. der
Transnationalstaat, eine demokratische Weltregierung oder eine
vertragsorientierte Staatengemeinschaft, sondern eine gemeinsame Spezies
virtueller Akteure, die sich vermischt und nomadisch bewegt, soll nun
die historische Kraft sein, die vom Widerstand gegen das Kapital zum
kollektiven Glück aufschließt. Jacques Derrida nannte sie die
"neue Internationale", eine partei- und heimatlose
Gegenverschwörung, die sich wenigstens von einem der Geister Marx' zu
einem konkret-realen Bündnis gegen das Weltelend inspirieren lassen
solle.
Aber entsteht aus Leid und Hoffnung
in der kommunikativen Durchdringung des virtuellen Nichtraums bereits
eine politische Konzeption, die ältere Projekte der Staaten- wie
Gesellschaftsbildung und der regulativen Überformung des
internationalen Urzustands souveräner Staaten erfolgreich überbietet?
Ist der alte Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, der nun von Hardt/Negri
als Widerspruch zwischen einer deterritorialisierten Menge und der
weltumspannenden Herrschaft der Ökonomie reformuliert wird,
ausreichender Stoff für die Politisierung einer 'Multitude' gegen den
global agierenden Turbokapitalismus? Wie sehen die neuen Nomaden, die
globo-mobilen Cyberpunks, die Hybriden und Mutanten einer virtuellen
Zukunft aus?
Hardt/Negri verwerfen die
Transformationsfantasien der Cyberpunk-Literatur, die Veränderungen von
Formen und Ordnungen, wenn es sich um eine Verweigerung um der
Verweigerung willen, um bloße Hybridität handelt. Allein die
Fokussierung auf die Regime und Praktiken der Produktion könnte eine
neue Politik der Menge erfüllen. (E 228 f) Im Mittelpunkt dieses
Denkens steht die selbstbewusste Arbeit, die sich der Entfremdung durch
Profitinteressen entzieht. Werkzeuge müssen zu "poietischen
Prothesen" werden und nicht länger die Taktgeber eines unerträglichen
Arbeitsalltages. Die von Gilles Deleuze und Felix Guattari vorgestellten
deterritorialisierten Wunschmaschinen sind antiödipale Konstruktionen,
deren Subjektivität im größeren Zusammenhang des Begehrens aufgehoben
wird. Doch garantiert der Wunsch, der sich selbst immer wieder
hintertreibt, bereits die Aussicht auf eine humanere Zukunft? Denn das,
was ist, ist nicht lediglich das schlechte Bestehende, sondern eben das
Resultat der kontingenten Bündelung von Wunschproduktionen. Gerade die
'Multitude', dieses nun von Hardt/Negri vorgestellte neue Subjekt einer
Geschichte, erscheint zuvörderst als eine undefinierbare Masse
subjektiver Handlungsanlässe und ihrer heterogenen Vernetzungen –
nicht anders als das Kapital selbst, dessen Macht sich nicht in der
kollusiven Verknüpfung von Kapitaleignern erschöpft, sondern im
globalen Wildwuchs Eigendynamiken entwickelt, die allenfalls bedingt von
den neuen Herrschern gesteuert und kontrolliert werden. Denn die Krisen
des Kapitals sind nicht lediglich perfide Unterdrückungsveranstaltungen,
sondern selbstläufige Krisen, die sich auch gegen ihre hilflosen
Protagonisten wenden. Auch das Kapital ist eine nicht länger geerdete
Wunschprojektion, die eben nicht durch Erfüllung untergeht bzw.
verwirklicht würde, sondern sich permanent erfolgreich reproduziert.
Dem Kapitalismus selbst ist eine virtuelle Energie inhärent, die sich
insbesondere in der Loslösung der Geldströme von der Produktivität
und dem realen Reichtum verwirklicht.
Neue Heilsgeschichten
Die Konzeption des 'Empire' ist
insoweit eine postmarxistische Theorie, als die Selbstgewissheit einer
Geschichte, die ihre dialektischen Stufen zum befreiten
Menschengeschlecht zwangsläufig durchläuft, keine Gültigkeit mehr
reklamiert. Bereits die marxistische Theorie war hinreichend verdächtig,
die scheinbar unhintergehbaren Gesetze geschichtlicher Entwicklung als
ein motivationales Instrument zu formulieren, um den Glauben der Akteure
an ihre eigene Geschichtsmächtigkeit – wenn schon nicht in einer
determinierten Heilsgeschichte, so doch zumindest in einer
transzendental-revolutionären Geschichtslogik – abzusichern. Die Ernüchterung
über eine universale, globalistische Theorie selbstbestimmter Befreiung
ist älter als der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus.
Tief enttäuscht über die Bilanz der sozialistischen Revolution
forderte etwa Maurice Merleau-Ponty 1955 eine marxistische Selbstaufklärung,
die ihm innerhalb des kommunistischen Systems prinzipiell unmöglich
erschien, doch immerhin in der nicht-kommunistischen Welt vielleicht
realisierbar sei. Nach Merleau-Ponty hatte sich der Marxismus als eine
stählerne Geschichtsphilosophie mit totalitärer Tendenz entlarvt,
demgegenüber er den Marxismus allein in seiner 'Negation' gegen
Ausbeutung und Entfremdung für wahr hielt.
Die Geschichte erwies sich
jedenfalls gegenüber ihrer philosophischen Inbesitznahme als stärker,
eine Inbesitznahme, die von permanenter Revolution sprach und sich darin
selbstgefällig für das historisch Allgemeine im Vollzug hielt. Die
historische Aktion des Proletariats war eine Frage an die Geschichte und
nicht bereits der Schlüssel, der das Portal zwischen Vorgeschichte und
wahrer Geschichte, einer zu sich selbst gelangten kollektiven Vernunft, aufschloss.
Die historischen Katastrophen schienen das unhintergehbare Resultat
einer ironischen Geschichte zu sein, die die Proletarier aller Länder
wie ihre Führer des Wahrheitsanspruchs beraubt hatte. Nicht der böse
Kapitalismus hatte im Widerstreit der Ideologien gesiegt, sondern die im
Subjekt selbst liegenden Widersprüche und ihre Spiegelung in den
sozialistischen Gesellschaften hatten sich in den Katastrophen der
materialistischen Dialektik schließlich selbst liquidiert.
Die Erben der
marxistisch-leninistischen Heilsgeschichte erscheinen heute nicht mehr
als Apologeten einer selbstgewissen Geschichtsteleologie. Hardt/Negri
sprechen zwar von der hochmoralischen und wichtigen Aufgabe, der Gewalt
des Kapitalismus zu widerstehen. (E 313) Damit verbinden sie aber ein
materialistisches Ethos, das auf dem Handeln von Singularitäten beruht,
eine "Teleologie, die eine Resultante der res gestae und Ausdruck
der maschinistischen Logik der Menge" sei. (E 376) Reicht das nun für
eine konkrete Utopie freier Menschen, für ein plausibles Projekt einer
offenen Geschichte, die gegenwärtig theoretisch noch nicht verrät, was
erst eine zukünftige Praxis erweisen könnte?
Hardt/Negri wissen, dass die
abgewirtschaftete Geschichtsteleologie nicht lediglich von einer
antikapitalistischen Moral abgelöst werden kann. Dem steht bereits die
geschichtliche Erfahrung entgegen, dass diese Moral und die ihr
folgenden Massen nicht per se über die revolutionäre Kraft verfügen,
den Kampf zu gewinnen. Die Empire-Kritiker versuchen das Problem über
eine neu definierte Gemeinschaftlichkeit der Produktion zu lösen.
Allein der Unterschied zu älteren Begrifflichkeiten wie Brüderlichkeit,
später Solidarität und Internationale, wird nun in der postmodernen
Produktionsweise, insbesondere in der virtuellen Vernetzung der ökonomischen
und sozialen Wirklichkeit durch das 'Empire' selbst gesehen. Das
'Empire' ist der allgemeine Apparat imperialer Befehlsgewalt, der wie
ein riesiger Schlund alles in seine Ordnung hereinzieht und dem
Imperativ folgt: "Inkorporiere, differenziere, koordiniere".
(E 209 ff)
Ist das wirklich neu oder zuletzt
doch nur die virtuelle Spätvariante der internationalen Solidarität
des selbstbewussten Proletariats gegen den Moloch? Marx forderte bereits
die "Assoziation freier Individuen", in der nicht länger die
Universalität materieller Produktion gilt, sondern die Entwicklung
aller individuellen Eigenschaften eine neue Gesellschaft konstituieren
sollte. Bei den Kritikern des 'Empire' heißt es: "Das Gemeinsame
ist die Fleischwerdung, die Produktion und die Befreiung der
Menge." (E 314) Dieser christologische, respektive messianische
Unterton atmet den kommunitaristischen Geist einer Urgemeinde in den
virtuellen Katakomben eines neorömischen Empire. Und so wie das römische
Reich dem Druck der Barbaren so wenig wie der eigenen Dekadenz gewachsen
war, wird heute die gesellschaftliche Produktion denunziert, unproduktiv
zu sein, weil sie sich – wie Deleuze/Guattari bereits 1972
feststellten – an den Körper der Erde oder das Kapital bindet.
Dieser Optimismus beflügelt die
Theorie der mobilen Menge: "Die Städte dieser Welt werden große
Depots kooperierender Menschen und Lokomotiven der Zirkulation sein,
temporäre Aufenthaltsorte und Netzwerke zur massenhaften Distribution
lebendiger Humanität." (E 404) Das Rauschen in den Kanälen der
kapitalistischen Ströme ist nun der virtuelle Mehrwert einer globalen
Humanität. Oder in den Prospekten von Deleuze und Guattari zur künstlichen
Selbstreproduktion der Erde, der neuen Erde: "Dies ist die
Vollendung des Prozesses: kein schon bestehendes gelobtes Land, sondern
eine Erde, die sich entsprechend seiner Tendenz, seiner Ablösung,
seiner Deterritorialisierung selbst erschafft." Globalisierung wäre
danach eine antiimperiale Virtualisierung, die nicht länger dem Raum,
dem Kapital, dem Staat oder der Familie als ihrem jeweiligen Sozius
verhaftet bleibt, sondern sich selbst aus sich selbst heraus immer
wieder neu produziert.
Zur Theoriesuggestion der
Globalisierung
Die virtuelle Globalisierung
beherrscht dieses Gemeinschaftsdenken als ein der Menge immanentes
Universalprinzip, nachdem die vormaligen transzendenten Universalerklärungen
ihre Geschichtsmächtigkeit eingebüßt haben. 1744 leitete Giambattista
Vico seine "neue Wissenschaft für die gemeinschaftliche Natur der
Völker" mit einer Bildreflektion über die Erdkugel ein und
stellte seinen universalen Erkenntnisgegenstand unter das Motto von
Seneca: pusilla res hic mundus est, nisi id, quod quaerit, omnis mundus
habeat (diese Welt ist armselig, wenn nicht, was sie erstrebt, die ganze
Welt besitzt). Der geometrischen Suggestion einer unbegrenzten Kugelwelt
erliegen in der Folge zahlreiche Universalitätstheorien. Mehr als noch
die Globalisierungskonzeptionen der Wissenschaft reklamierten
Menschenrechtskataloge die Universalität überpositiver Regelungen für
die Zukunft einer freien Weltgesellschaft. Von Kants Konstruktion des
transzendentalen Bewusstseins, Fichtes Begriff des reinen Ichs und vor
allem Hegels Inthronisation der Vernunft werden gesellschaftliche
Konzeptionen entwickelt, die im Weltbürgerreich, in einer Totalisierung
von Gesellschaft und Staat oder in der Universalität menschlicher
Lebensbedingungen münden. Glanz und Elend dieser Philosophien ist der
Apriorismus ihres universalen Geltungsanspruchs, der sich seit seiner
Geburt an Singularitäten, Identitäten, Individualitäten und
Interessengruppen reibt, die sich gerade nicht auflösen, sondern sich
gegen die universellen Überformungen ihres Handelns wehren. So wird es
bei Hegel zur Aufgabe der Philosophie, von der Entfremdung der Welt der
Objekte und der Menschen zur Herrschaft der Vernunft zu gelangen. Es
geht einzig um eine Vernunft, die immer vernünftiger wird, um schließlich
Idee und Wirklichkeit wieder miteinander zu versöhnen. Bis dahin
freilich soll bei Hegel der Friede mit dem Bestehenden geschlossen
werden, während Marx mit dem umgekehrten Vorzeichen einer Abschaffung
der bürgerlichen Gesellschaft revolutionäre Legitimationen darin
findet. Doch der Widerspruch zwischen dem jeweiligen Subjekt der
Geschichte mit dem Universalismus seines Anspruchs und den tatsächlichen
Verhältnissen stößt dieses Denken und seine Praxis immer wieder auf
die unwahre Wirklichkeit zurück. Es scheint so, als gäbe es nicht nur
eine List der Vernunft, sondern auch eine Hinterlist des Wirklichen, die
sich philosophischer Aneignung wie revolutionärer Praxis gleichermaßen
entzieht. Auch die Globalisierung ist ein Teil dieses Widerspruchs
zwischen der Universalität und einer partikularen, zwiespältigen
Wirklichkeit, die bestehende Ungleichheiten erhält. Wilhelm Dilthey
hatte gegen Hegels Idee einer synchronen Vernunftentwicklung auf
"die Faktizität der Rasse, des Raumes, des Verhältnisses der
Gewalten" verwiesen.
Mit dem Formelkompromiss
"Identität des Gedankeninhalts" und der "Verschiedenheit
der Ausdrucksformen" versuchte etwa Vico sein Universalprinzip für
alle Völker zu begründen. Nur besagt die imaginierte gemeinsame Natur
der Völker wenig über die politische, ökonomische und
gesellschaftliche Konkretisierung einer Weltgesellschaft. Verheißt eine
Weltkommunikation unter den technologisch avancierten Voraussetzungen
der Telepräsenz bereits die Synchronisierbarkeit von Idealen gegen die
Ungleichzeitigkeiten des Faktischen? Oder bleibt die Idealisierung einer
ausgeglichenen Weltgesellschaft freier Individuen das alte neue Gespenst
des Kommunismus, das seit 1848 die herrschenden Mächte zwar beunruhigt,
aber seine Fleischwerdung weiter erfolgreich selbst hintertreibt?
Globalisierung suggeriert eo ipso
den Prozess einer Vereinheitlichung, in dem das Partikulare eben nicht
als das Heterogene desavouiert wird, sondern sich im Feld einer
weltweiten Vernetzung als das kulturell, religiös oder individuelle
Besondere erhalten darf. Michel Serres proklamierte 1990 paradigmatisch
für viele Globalisierungshoffnungen einen 'Naturvertrag' der Symbiose
und Wechselseitigkeit, der Herrschaft und Besitzstreben austauscht gegen
"Zuhören, Wechselseitigkeit, Kontemplation und Respekt".
Serres spricht von der Welt in ihrer Totalität, von den Dimensionen der
ERDE, als sei die 'Kapitalisierung' des Begriffs bereits der Garant für
die friedliche Universalisierung einer zukünftigen Weltgesellschaft.
Bis heute bleibt der nebulöse Begriff der Globalisierung ein
zweischneidiger Wert, weil die Kritiker der Globalisierung nicht nur
ihre Apologeten sind, sondern sich erst in ihrer weltweiten
kommunikativen Voraussetzung als neue virtuelle Klasse konstituieren können.
Ob nun 'Empire', kommunistische,
kommunitaristische oder öko-ethische Sozialkonstruktionen der
Globalisierung eingeschrieben werden, in allen Fällen erliegen die
sozialen Projektionen dem Bild eines so oder anders vereinheitlichten
Globus, der nun das alte Erbe von freischwebenden oder konkretisierten
Utopien antreten soll. Zu konzedieren ist, daß Vereinheitlichungen von
Lebensumständen auf Grund weltweiter Kommunikation, aber mindestens
ebenso sehr auf Grund ökonomischer Interessen wahrscheinlicher werden.
Aber die formale Homogenisierung der Lebensverhältnisse, insbesondere
in ihrem technologischen respektive kommunikativen Zuschnitt, beinhaltet
noch keine Garantie, aus dem Versprechen der Medien auch eine universale
Ordnung gesellschaftlicher Verträglichkeit, noch weniger eine Ordnung
des kollektiven Glücks abzuleiten. So wenig wie sich aus dem
Leibapriori der Menschen ihre Friedfertigkeit ableiten läßt.
In dieser Gleichung von
Globalisierung und dem Zuwachs an ethischer Kompetenz und überkulturellem
Konsens verliert sich jedes negative Bewegungsprinzip, das historisch
die Selbstreproduktion von Gesellschaften nicht weniger als die des
Einzelnen bestimmte. Der Widerstand könnte ein transpolitisches Prinzip
sein, das sich nicht dieser oder jener Wünschbarkeit fügt, sondern in
autologischer Konsequenz auch sich selbst bestreitet, um die Evolution
anzutreiben. Die "biopolitische Realität der Menge" (E 414),
auf die Hardt/Negri so euphorisch wie unverhohlen mythologisch
vertrauen, ist kein neues Globalisierungsprodukt oder gar eine
"ontologische Macht einer neuen Gesellschaft" (E 420), sondern
eine tradierte, in sich widersprüchliche Energie menschlicher
Gemeinschaften. Im Grunde fällt diese Begrifflichkeit einer
ontologischen Macht wieder auf den dialektischen Prozess Hegels zurück,
den Marx in der Negativität der Wirklichkeit nur als historische und
eben nicht als metaphysische Bedingung gelten lassen wollte. Hegel indes
hatte seinen ontologischen Begriff des Fortschritts der Vernunft von
jeder subjektzentrierten Bestimmung frei gehalten, die auf das Glück,
die Aufhebung der Klassen, oder die Totalbefriedigung freier Menschen
zielte. Wer heute noch von Ontologie redet, trägt mehr denn je die
Beweislast für sein Unternehmen.
Die Schwächung von Nationalstaaten
leitet nicht das Ende von Interessengegensätzen ein, sondern verteilt
sie in den Klassen von Besitzenden und Besitzlosen neu. Gerade die in
der Globalisierung entstehenden virtuellen Gemeinschaften sind alles
andere als eine biopolitische Realität, sondern zunächst und gegenwärtig
Anknüpfungspunkte für heterogene Weltkonstruktionen, die sich in ihrer
konkreten politischen Wirklichkeit wechselseitig bestreiten. Der Begriff
der 'Globalisierung' vitalisiert allein noch nicht das biopolitische
Kalkül. Der Mangel dieses biopolitischen Kalküls liegt in seiner
rousseauistischen Anbindung an den an sich guten Menschen in einer
globalen Gemeinschaft, die nun lernen soll, diese fundamentalen
Eigenschaften jenseits klassischer Widersprüche kollektiv auszubilden.
Jede philosophische Prognostik, die ein fundamentales Menschenbild
hypostasierte, ist bisher gescheitert. Warum sollte dieses Ideal, das
bereits in den nationalen Teilgesellschaften der Weltgesellschaft
versagte, nun auf globaler Ebene eine Einheit stiften, die egalitär, brüderlich
und freiheitlich ist? Nach Michael Walzer setzt die Gesellschaft der Völker,
setzt der Erdball als Gesamtheit, voraus, etwas zu imaginieren, was
bisher nicht existiert: eine alle Menschen einschließende Gemeinschaft.
Doch das kann schon deshalb nicht imaginiert werden, weil eine
Gemeinschaft ohne Grenze keine wäre, sondern eine unterscheidungslose
Totalität.
Wie funktioniert die Biopolitik?
Die Konstitution der Menge läuft über
eine autonome Produktion: "Indem sie arbeitet produziert sich die
Menge selbst als Singularität". (E 402) Diese Menge kehrt die
ideologische Illusion um, alle Menschen wären unter Weltmarktverhältnissen
austauschbar. Hardt/Negri scheinen sich der Einwände bewusst zu sein, dass
die Menge damit noch nicht als politisches, schicksalsmächtiges Subjekt
plausibel wird. Für diese Theorie liegt nun der alles entscheidende
Vorteil der neuen biopolitischen Bewegung der Menge darin, dass sie sich
selbst auf den 'imperialen Oberflächen' bewegt, wo jede Transzendenz
durch die Immanenz der Arbeit ersetzt wird. Danach gäbe es keinen
Grund, jenseits dieser neuen globalen Produktionsbedingungen noch nach
anderen Mitteln zu suchen, um zum neuen zielstrebigen Proletariat zu
werden. Bereits Lenin hatte im "Element der Spontaneität" die
Keimform der Zielbewusstheit erkannt.
Das 'Biopolitische' zieht sich durch
diesen antiimperialen Diskurs wie die spontanistische Verleiblichung
einer Idee, die Inkarnation des Theorieversprechens, das seine
gesellschaftliche Vision nun weder transzendental noch
historisch-dialektisch, sondern durch das Leben selbst belegt.
"Leben aber und Bewusstsein sind dieser Aufstieg selbst" könnten
auch die Kritiker des 'Empire' – mit Henri Bergson gesprochen – den
neuen virtuellen Protagonisten einer global vernetzten Gemeinschaft
voranstellen, die ihre "gesteigerte Kraft zum Tun und zum
Leben" der schöpferischen Intuition des Lebens selbst entnehmen.
Prekärer als die irrationalitätsverdächtige Fundierung der
Aktionsphilosophie durch Biopolitik erscheint die Reduktion des
Virtuellen auf das schöpferische Subjekt, das sich in der Menge zum
autonomen Wesen einer von den Strömen des Kapitals befreiten
Gesellschaft aufschwingt.
Das ist eine fragile
Geschichtsphilosophie, weil das neue alte Einheitsprinzip des revolutionären
Glücksversprechens das in sich heterogen veranlagte Individuum sein
soll – allein diesmal als global vernetzes Subjekt mit einem neuen,
ebenfalls weltweit operierendem Widersacher, dem 'Empire'. Hardt/Negri
entwerfen wider die erklärte Absicht damit gerade keine politische
Theorie der Virtualität, die nur darin liegen könnte, kein vorgeblich
handlungsmächtiges Subjekt der Geschichte zu ermitteln. Virtualität in
diesem Sinne wäre nicht der humane Vorschein des Besseren, sondern eine
radikal neu konstituierte Sphäre, die allein die Option besitzen könnte,
das biopolitische Versagen gegen einen leidensfreieren Entwurf von
Geschichte einzutauschen. Die Stellung des Menschen im neuen virtuellen
Kosmos wäre dadurch indes längst nicht beantwortet.
Das freilich setzt einen höheren
Grad von Vertrauen in die technologischen Potenziale virtueller
Welterschließungen voraus, als sie Hardt/Negri in ihrem reformulierten
Widerspruch von unproduktivem Kapital und vitaler 'Multitude' erbringen
können: "Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können
– weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe,
Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben. Darin zeigen sich die
nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu
sein." (E 420) Die unerträgliche Leichtigkeit dieses theoretischen
Seins verbirgt die Schwere der Aufgabe – oder in den Worten Derridas:
"Der Eskamoteur versteht es, etwas unscheinbar zu machen. Er ist
der Experte einer Hyper-Phänomenologie". Hardt und Negri sind
solche Eskamoteure, die das zuvor errichtete 'Empire' ebenso leicht
demontieren, und es als unwahre Phantasmagorie in dem virtuellen
Gespenst der Masse verschwinden lassen, wie sie es zuvor errichtet
haben. Der Revolutionär, der weiland mit der Kalaschnikow in der Hand
den Sieg des Proletariats erkämpfte, verwandelt sich nun in ein Double
des Hl. Franz von Assisi, der die "Zukunft kommunistischer
Militanz" (E 420) verdeutlichen soll. "Elend der Macht"
versus "Freude am Sein" oder doch eher Elend der Theorie
versus Ironie der Wirklichkeit?
Es ist der fatale Mangel in den schön
geredeten Passagen virtueller Produktion, schließlich auf Rousseau zu
verweisen, der das Böse in demjenigen verortete, der die transzendente
Form des Privateigentums schuf. "Gut hingegen ist das, was
gemeinsam ist." (E 314) Der Begriff der Gemeinsamkeit wird dadurch
notwendig zu einem mythischen Neubegriff einer postteleologischen
Geschichtsparadoxie. Denn alle Ungerechtigkeiten einer Gesellschaft, die
Ungleichverteilung von Macht und Geld, nicht weniger als Krieg und
kollektive Katastrophen sind das Gemeinsame – und eben nicht zu
eskamotieren. Das Gemeinsame in der Lesart von Hardt/Negri dagegen wird
zum melioristischen Totalisator einer virtuellen Netzwerkgemeinschaft,
die sich gleichsam als heilbringender Virus in das alles verschlingende
Empire einnistet. Doch die historisch immer fragile Gemeinsamkeit wurde
nie über intrinsische oder sozialverträgliche Momente einer Gruppe von
Menschen gezeugt, sondern durch historisch kontingente Umstände, äußeren
Zwang, utilitaristische und pragmatische Motive. Auch ohne dem
hobbesianischen Menschenbild zu folgen, ist Gemeinschaft von Einschluss-
und Ausschlussgegensätzen bestimmt, die eben keiner über der Erde
schwebenden, virtuell vernetzten 'Multitude' entspricht. Das Politische
ist nach Hardt/Negri "die Macht von Generationen, Begehren und
Liebe". (E 395) In dieser biopolitischen Vergemeinschaftung stören
nicht allein die von Trotzki als Nebenkosten in der geschichtlichen
Entwicklung bagatellisierten Katastrophen revolutionärer Bewegungen,
die noch heute in den postsozialistischen Gesellschaften mit Zins und
Zinseszinsen abbezahlt werden müssen. Gemeinsamkeit ist der fragile
Stoff, der in den Spannungen zwischen nichtvermittelbaren Interessen
jederzeit gefährdet ist, unterzugehen. Deswegen funktioniert der
postmarxistische Kommuni(tari)smus so wenig wie jeder andere, wenn er
von seiner ohnehin unvollkommenen nationalen Form auf die zerstrittene
Weltgesellschaft übertragen wird.
Der Begriff der Biomacht, nun als
virtueller Elan ausgewiesen, ist selbst dann nicht zu retten, wenn er
von seinem sozialrevolutionären Neu-Pathos befreit wird, weil mit den
Gewährsmännern Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Michel Foucault und
vielen anderen gesprochen – daraus kein ethisches oder libidinöses
Prinzip universaler Liebe oder einer von Herrschaft befreiten
Gesellschaft entsteht. Ob nun Kapitalismus oder 'Empire' auf ihre
universale Macht hin untersucht werden, das stärkere Agens einer
virtuell fortgeschriebenen Geschichte könnte nur darin liegen, den
Begriff der Macht selbst über die Demontage des Subjekts zu entmachten.
Allein eine Virtualität, die nicht mehr an umkämpfte Ressourcen
gekoppelt ist, die von menschlichen Leidenszuständen freigesetzt ist, könnte
diese historische Stelle einnehmen. Davon sind wir freilich in eben dem
Maße noch entfernt, in dem sich 'Biomacht' und 'Empire' untrennbar
ineinander verschlingen, so wenig auch das einer restaurierten Kritik
erträglich sein mag.
Goedart Palm
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