Georges
Bataille und das Böse
Böses
Vorspiel
"Böse,
Böse, Böse!" Mallory schimpft heftig. Ihr Freund Mickey, ein "natural
born killer", wie wir später erfahren, hat gerade einen weisen
Navajo-Indianer getötet. Der wollte ihm doch nur helfen, die bösen Dämonen
seiner Kindheit zu besiegen und die verdrängten Erinnerungen an frühen
Missbrauch urbar zu machen. Mickey schießt, als er aus diesem künstlich
bereiteten (Alp)traum noch nicht ganz erwacht ist. Das chaotische
Multilayer-Kino spülte sein Unbewusstes hoch. Selbst der Strafrichter müsste
hier am Schuldspruch zweifeln, weil Mickey nicht zurechnungsfähig war. Hier
war das Böse nicht der Preis der Freiheit, wie es Rüdiger Safranski, einem
alten christlichen Reim auf die verqueren Verhältnisse folgend, definiert.
Das postmoderne Bonnie und Clyde-Duo tötet 52 Menschen, doch nie zuvor
sagte Mallory, dass Mickey böse sei. Mallory hat selbst auch keine
moralischen Hemmungen, als kontingent handelnde Nemesis Opfer zu machen. Das
Selbstverständnis dieses „zum Töten geborenen“ Paars erfüllt in vorzüglichster
Weise das Profil der Konrad Lorenzschen Aggressionstheorie, eben deshalb zu
töten, weil es der Instinkt gebietet. Doch wenn Instinkt Unschuld heißt,
gibt es das Böse nicht - es wird nur "so genannt". Warum also
soll Mickey jetzt böse sein, just in dem Moment, in dem er jede Kontrolle
über sich verloren hat? Mickey entschuldigt sich konventionell, es sei ein
Unfall gewesen. Wäre das Böse das Drama der Unfreiheit?
Mallory
könnte mehr Durchblick haben als die Apologetiker des freien Willens, wenn
es um das fundamental Böse geht: „Das war böse! Vielleicht wurden wir
von einem Dämon in diese Wildnis geleitet.” Dieses Böse, von dem Mallory
spricht, entspringt nicht dem Vorsatz, einer mehr oder minder rationalen
Figur, wie es dem Apriori des (Schuld)Strafrechts und seiner eigenen
Apologetik entspricht. Es ist das unheimliche, das radikale Böse, es sind
ganz im Sinne schwarzer Romantik die „Elixiere des Teufels“ (E.T.A.
Hoffmann), die Mickey "böse" machen. Der Exorzismus des
Indianers, Mickeys Dämonen zu vertreiben, schlägt fehl und kehrt sich
gegen diesen selbst. Der Teufel mag bekanntlich Exorzisten nicht. Mickey
wird in einer bösen Ordnung zum Todesengel, weil es der Teufel so will. Das
Böse, die Schlange, ist eine unheimliche Emergenz, die so real wie imaginiär
gerade dann erscheint, wenn es unwahrscheinlich ist. Insofern ist sich der
Film seiner paradiesischen und luziferischen Motive sehr bewusst,
insbesondere in dem Moment, als Mickey und Mallory bei ihrer überstürzten
Flucht aus dem Indianerzelt auf ein Feld von Klapperschlangen geraten und
gefährlich gebissen werden. Für Regissseur Oliver Stone, den Buddhisten
mit christlich durchtränkter Semantik, ist die Schlange "a creature of
knowledge", die immer dann, wenn Mickey auf eine trifft respektive
tritt, eine wichtige Lehre für ihn bereit halte. Erkenntnis tut weh.
Gestatten,
Voland, Professor für Schwarze Magie
Dass
das Böse eine Erkenntnisfunktion besitzt, war schon immer klar, weil jeder
Widersacher Verstand und Sinne provoziert, um in diesem Widerspiel der Mächte
moralische und praktische Remedien zu finden. Ist aber das Böse überhaupt
erkennbar oder gilt hier Hannah Arendts Wort von der "furchtbaren
Banalität des Bösen….vor der das Wort versagt und an der das Denken
scheitert.“ Verlohnt es dann nicht noch, über das Böse nachzudenken,
weil es für Denker und Literaten zu schwer, zu undelikat, zu grobkörnig,
zu "instinkthaft" beschrieben wäre?
Georges
Batailles Versuchen, dem Bösen auf die Spur zu kommen, war eine gewaltige
Rezeption beschieden. Seine nun wieder aufgelegte Schrift „Die Literatur
und das Böse“ täuscht im Titel bereits über seine weitreichend
transliterarischen Absichten. Denn Batailles Miniaturen über Emily Brontë,
Baudelaire, Michelet, William Blake, Sade, Proust, Kafka, Genet widmen sich
über die Literatur hinausgehend der so alten wie scheinbar ungelösten
Menschheitsfrage nach dem „Bösen“ als Grundkonstituens menschlichen
Verhaltens. Bataille entfaltete das Böse als gesellschaftliches,
moralisches, ästhetisches und libidinöses Phänomen im Kontext seiner
einflussreichen Sozioökonomie der Verausgabung, Überschreitung und
Intensität. Die Geschichte von Mickey und Mallory repräsentiert ein
zentrales Moment seiner Ökonomie des Bösen sehr gut: Sie entscheiden sich
für Intensität. Ihnen wurde die Kindheit geraubt, ihre Gefühle wurden
verletzt und unterdrückt, sie waren Opfer - nun holen sie sich selbst, was
sie brauchen und delirieren in der Gewalt. In dieser nicht klischeefreien
Storyline suchen sie den Exzess, riskieren jederzeit den eigenen Tod. Das
hieß in der moderateren, aber psychedelisch todesnahen Variante: "Live
fast, love hard, die young". Für Georges Bataille bedeutet es, das
Risiko der Intensität einzugehen, dem positiven Menschheitsziel zu folgen,
einem Wert an sich, „hart am Rande der Ohnmacht“ und ohne Angst vor dem
Tod. Dieser Wert der Intensität habe selbst keine moralische Kontur. Er
bewege sich jenseits von Gut und Böse. An diesen Ort wurden wir in der späten
Neuzeit schon häufiger geschickt, um doch immer wieder in das nackte
moralische Diesseits zu gelangen. Denn wie ist es mit dem anderen,
konventionellen Ziel zu vereinbaren ist, sicher und dauerhaft zu leben. Das
Modell kennt jeder. Wir schlagen über die Stränge, bereuen es - oder auch
nicht - und kehren wieder heim in die fade Alltäglichkeit, um kurz danach
erneut wider den Stachel zu löcken. Diese „Polarität von Intensität und
Dauer“ löst Oliver Stone für Mickey und Mallory ganz im Batailleschen
Sinne, weil Stone beide Seinsweisen im Zaubermedium Film alternieren lassen
kann. Mickey und Mallory fahren mit ihren Kindern in einem Wohnmobil der
Sonne entgegen, ganz so, wie es der amerikanische Traum vom so glücklichen
wie behäbigen Familienleben zulässt. In der alternativen Fassung des bösen
Paralleluniversums dagegen bleibt Oliver Stone der „Intensität“ treu:
Der Mithäftling Owen rettet das Killer-Paar aus dem Knast und will Sex mit Mallory. Es kommt zum showdown, in dem der „Schutzengel“, wie ihn Stone
charakterisiert, Mickey and Mallory erschießt. Der Umgang mit Paradies- und
Höllenpersonal war noch nie risikofrei. Der Teufel, der wohl nach
unfehlbarer Lehrmeinung des Papstes leibhaft existiert, ist eine reale
Figur. Anders sind seine myriadenfachen Darstellungen mit den peniblen
Details einer Ästhetik des Schrecklichen bis Peinlichen auch nicht zu erklären.
Trotz seiner mythologischen Prominenz macht uns seine Erkennbarkeit bei
wechselnder Erscheinung erheblich zu schaffen. Geradewegs ist das Wesen des
personifizierten Bösen die Täuschung. Er kommt harmlos daher, bietet sich
als netter oder unheimlicher, aber attraktiver Fremder an und schon werden
wir in seinen Bann geschlagen. So erscheinen bei Michail Bulgakow Spaßteufel,
wilde wie lustige Gesellen, hinter deren fröhlicher grotesker Fassade sich
die furchtbarsten und unnahbarsten Finsterlinge verbergen. Aber das weiß
man immer erst hinterher - wenn es zu spät ist. Der Teufel lässt sich
nicht in die Karten gucken. Deswegen ist es auch so schwer, mit ihm zu
wetten oder gar aurf ihn zu setzen. Er ist Betrüger, Täuscher und
Scharlatan, der immerhin reklamiert, mit seinen Enttäuschungen Erkenntnis
zu fördern. In dem Film "Angel Heart" erfährt der Privatdetektiv
erst zum Schluss, dass er von Satan beauftragt war, der ihm klar macht, dass
just er der Mörder ist, während er den imaginären Täter suchte. Es gibt
seit dem Paradies eine dem Bösen verbundene Erkenntnis, die der Mensch
nicht aushält. Übersetzt für den Alltagsgebrauch heißt das: Ohne
Illusionen, moralische Selbstbeschreibungen und narzisstische
Freizeichnungen geht es nicht. Überleben heißt, Wirklichkeit ständig im
großen Maße wegzufiltern und nur das "wahr zu nehmen", was dem
Handelnden nützt. Das ist zwar ein fehleranfälliges Geschäft der
Selbstbehauptung, aber lebensrettend. In seiner Erzählung „Der
geheimnisvolle Fremde“ präsentiert Mark Twain einen dem Laplaceschen Dämon
nächstverwandten Teufel, dessen moralisches Selbstverständnis das
strapazierte Schema „gut“ und „böse“ in den (infiniten) Regress
treibt. Immer wenn ihm besseres Alternativverhalten vorgeschlagen wird,
projiziert er diese Variante in ihren zukünftigen Untiefen: „Er hatte
eine Milliarde möglicher Lebensläufe, aber nicht einer davon war wert,
gelebt zu werden.“ Solcherart ist die Weltsicht des Teufels lakonisch,
wenn er in den Weltenlauf in bester Absicht eingreift, weil „Gut“ und
„Böse“ in ihrem Verlauf unheimlich verzahnt sind. Dieser intrikate
Teufel gibt das „Böse“, das er vermeintlich repräsentiert, letztlich
wieder an den Schöpfer zurück, der für die Initialzündung dieser besten
aller möglichen Welten verantwortlich ist. Satanisch ist dagegen die
Erkenntnis, dass diese Welt die auswegloseste aller möglichen ist. Wie geht
der Mensch damit um? Die Erkenntnis über das Böse gefährdet das
affirmative Selbstverständnis des Menschen, was wiederum heißt, besser
nicht zu sehr über sein eigenes (Un)Wesen und dessen finstere Antriebe
unterrichtet zu sein. Und behauptet einer gar, dass es das Böse nicht gibt,
könnte das - hexenhammermäßig argumentiert - geradewegs der Beweis sein,
dass er selbst der/das Böse ist. Das ist nicht nur das Wissen der
Inquisitoren, sondern auch der erregten Anklagen der Reformation, der wahre
Teufel sitze nicht in der Hölle, sondern horribile dictu: im Vatikan. Der
Teufel ist also immer gerade da, wo wir ihn nicht vermuten. Wer das Böse
leichtfertig verortet, verfehlt es also!
|
Zwischenspiel: Moderne
Teufelsaustreibung
Was jedoch bleibt vom
Teufel jenseits des Glaubens der Exorzisten und Großinquisitoren übrig,
nachdem er spätestens seit der Aufklärung immer wieder in den Windkanal
moralischer Reflexionen geschickt wurde? Auf einmal gibt es keine bloß bösen
Handlungen mehr, sondern das Böse mutiert zur schöpferischen Urkraft und
unabdingbaren (und so vielleicht entschuldeten) Seinsweise jedweden Daseins.
Der Teufel ist als vormaliger Widersacher nunmehr eine vitale
Betriebssystemfunktion unserer Welt, die ihm zahlreiche Transformationen eröffnet:
Das Böse wird objektiv als evolutionäres Prinzip erklärt, auf personaler
Ebene gilt es als subjektiver Irrtum oder (behebbare) Devianz. Schon
Benedict de Spinoza beschreibt das Böse in „Ethica ordine geometrico
demonstrata” als das, was der Selbstbehauptung des Einzelnen
entgegenstehe. Das Böse ist also hier nicht ein äußeres Prinzip, sondern
auf das Subjekt bezogen, das seine Wertordnung in der Spannung von "Gut
und Böse" findet. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt,
"Jenseits von Gut und Böse" zu operieren, es neu und schöpferisch
zu definieren, was schon immer ein Anlass für eine auch politisch
geltungshungrige Philosophie war, die Welt ihrem Supercode zu unterwerfen. Nietzsche
beklagte, dass der Verbrecher zu seinem "Bösen", seiner eigenen
Wertschöpfung in der dekadenten Gesellschaft des europäischen Nihilismus
nicht steht und sein eigenes authentisches Bekenntnis gegenüber der Moral
der Gesellschaft schließlich im Stich lässt. Der Verbrecher sei (noch)
schlicht zu schwach, seine Wertewelt, seine trotzige Behauptung
des Bösen aufrechtzuerhalten, was erst Zarathustra, dem ältesten
Moralerfinder, gelingt.
Für Opfer ist die
kategorische Sicherheit des ausgetriebenen Bösen freilich alles andere als
eine Beruhigung. Denn wie man das "sogenannte Böse" vermeidet,
bleibt nicht weniger eine Frage wie jene vormalige nach der probaten Magie
gegen seine infernalischen Vorfahren. Konrad Lorenz ist nah bei Sigmund
Freud, wenn er Übereinstimmungen zwischen Psychoanalyse und
Verhaltensphysiologie konstatiert. Zwar lehnt Konrad Lorenz den Todestrieb
ab, aber reklamiert für seine (Tiervergleichs)Wissenschaft einen
instinkthaften Aggressionstrieb, der im Kampf des Menschen für sein Überleben
unverzichtbar sei. Nun ist der Aggressionstrieb eine Konstruktion, die
deshalb wenig aussagekräftig bleibt und auch von Lorenz relativiert wird,
weil Menschen zahlreiche Techniken besitzen, aggressionspolitisch
zivilisiert bis raffiniert zu verfahren, ihre dunklen Energien um- und
abzuleiten. Womit das Böse also nach seinem metaphysischen Tod nunmehr in
Abreaktions- und Sublimierungsspiralen sterben soll. In dem in den siebziger
Jahren erfolgreichen Werk "Die Gesellschaft und das Böse"
verabschiedete Arno Plack die These vom Aggressionstrieb: Das "Böse"
seien unterdrückte Triebe. Lasse ich Liebe in allen ihren Varianten zu,
verschwindet das Böse fast wie von selbst. Das „Böse“ existiert auch
hier nur als das „sogenannte“ Böse, aber eben nicht als
unhintergehbarer Instinkt. Diesmal markiert es selbstbezogene Menschen, die
nicht lieben können und bestenfalls ein autoerotisches Verständnis ihres
Leibes entwickeln. Diese Transformation ist nicht allein Arno Placks
Erfindung, der einige Erklärungen präsentiert, aber kaum zureichende,
warum denn der Mensch seine eigene Lust, sein leibhaftes Interesse am
anderen in Äonen ständig verraten hat. "Was an verdrängter Sexualität
in Erziehung und Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei wütet, müsste nach
Plack vorerst zu Bett", schrieb Ulrich Sonnemann in einer wohlmeinenden
Rezension. Mag sein, doch Sonnemann wusste wohl auch, dass Gesellschaften mächtige
manifeste wie latente Gründe haben, Liebe als befreiten Eros respektive
Natur pur nicht zuzulassen. "So
ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite — großen idealfähigen
Mächten — höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die
Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen
Erregungen entstehen ließ". Friedrich Nietzsche ermittelte das Übel
auch in der Lust- und Leibverdrängung des Christentums, das aber - folgen
wir dem Mephisto-Prinzip - zugleich ein unabsehbares Macht- und
Erkenntnisprogramm einleitete, das einer reflexiven Vernunft erst ermöglicht,
ihre eigene Tradition moralisch zu hinterfragen.
Zu
den Aporien moralischer Reflexion
Zurück
zum paradiesischen Anfang: Der freie Wille, der Gott so angelegen ist, lässt
das Böse zu. Das Böse als Nichtkategorie, als substanzloses Nichts belegt
in seiner divinen Rückversicherung die Unwilligkeit, das Böse zu
erfassen, ihm einen Platz und originäre Qualität zuzusprechen. Dafür,
dass das Böse nach Augustinus so substanzlos ist, hat es allerdings einen
sehr soliden Wirklichkeitsstatus, wenn wir uns erst einmal auf die
Unterscheidung eingelassen haben. Das Böse als Derivat des Guten, nicht als
manichäische Gegenmacht, könnte jedoch mehr sein als der Stoff, aus dem
man Theodizeen macht, wenn er zugleich eine unhintergehbare logische Kontur
hätte.
Wie
sieht der logische Test aus: Könnte das Abhängigkeitsverhältnis
moralischer Werte umgekehrt formuliert werden? Erst kommt das Böse, das
Gute wäre dagegen nur seine Ableitung. Wir können zwar traditionell oder
mit psychoanalytischer Unterstützung behaupten, dass das Böse ein
fehlgeleitetes Gutes ist. Dagegen aber das Gute als akzidentiell zum Bösen
zu denken, das Böse also als vorrangiges Prinzip zu formulieren, macht
vorderhand wenig Sinn. Hier hilft allerdings die Denkfigur Friedrich
Nietzsches, das Gute als eine moralische (!) Schwäche zu behandeln, böse
zu sein. Hier werden die Rollen der moralischen Bewertungen von menschlichen
Handlungen vertauscht, sodass also cum grano salis das Gute das Böse wäre
wie umgekehrt. Nietzsche demonstrierte diese Umwertung der Werte durch einen
Tigersprung zurück in die vorsokratische Epoche, vor den Beginn des
christlichen Platonismus. Nun sollte eine entmuckerte, ästhetisch
sich aufgipfelnde Existenz das Dasein neu rechtfertigen und vitalisieren. Sein
Angebot, diese postchristliche Wertefabrikation gleich selbst zu besorgen, ließ
ihn in höchster Weise von sich selbst denken, zur Zäsur der Zeitalter
werden: "Plato hat es
prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder
bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muss:
denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen,
und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden,
so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als ´das böse Prinzip´."
(Friedrich Nietzsche, Morgenröte). In das "Jenseits von Gut und
Böse" gelangen wir dadurch heute längst nicht, weil wir uns nicht nur
– wenn auch unter anderen Vorzeichen – in die älteste
Moralunterscheidung verstricken, sondern die ästhetische Lebensform eine
durch und durch vitalistische Fiktion ist, die sich in den Anmutungen der
verwalteten Existenz auflöst oder lächerlich (Stefan George) wird.
Niklas
Luhmann provozierte in selbstreferentieller Anwendung der moralischen
Reflexion auf ihre Unterscheidung hin mit der radikaleren Frage, ob es gut
sei, den Unterschied von Gut und Böse zu machen. Ist es nicht ein
Fehltritt, sich für das Gute zu entscheiden, wenn allein eine moralfreie
Beobachtung wissenschaftlich probat wäre? Doch dann ist es gut, sich als
Wissenschaftler bei der Untersuchung des Guten, nicht für das Gute zu
unterscheiden. Dieser paradoxe Zirkel markiert weiterhin, dass es
offensichtlich schwierig bis unmöglich ist, in unserem moralischen Apriori
zu formulieren, dass es böse ist, zwischen gut und böse zu unterscheiden.
Wenn wir die Unterscheidung auf sich selbst anwenden, entsteht wiederum eine
neue moralische Ordnung, in der es gut wäre, nicht moralisch zu urteilen.
Fazit ist also, dass in systemtheoretischer Perspektive die zuvor so
selbstgewisse Ethik die Moral nicht grundieren kann, sondern kontingent
bleibt. Als gesellschaftliche Supercodierung wird das Schema „Gut/Böse“
zwar permanent instrumentalisiert, wie es der politische Apparat in seiner
„höheren Amoralität“ zeigt. Tatsächlich folgen aber – und dafür
muss man kein Systemtheoretiker sein – gesellschaftliche Teilbereiche,
vulgo: Systeme, völlig anderen Imperativen, was nicht ausschließt, dass
die Moral, assistiert von anderen Codes, plötzlich und unerwartet zuschlägt
(Beispiel: Karl-Theodor zu Guttenberg).
Immerhin
kann uns der ewige Ge- und Missbrauch der moralischen Differenzierung dahin
führen, die Unterscheidung für nicht gut zu halten, wenigstens aber für
bedeutungslos, wenn wir nicht ihren reflexionslogischen Kontext genauer
angeben. Wer moralisiert, will verletzen, heißt es bei Niklas Luhmann, was
wiederum nietzscheanisch übersetzt heißt: Wer moralisiert, strebt nach
Macht. Der Systemtheoretiker rät daher zu einer Ethik, die vor der Moral
warnt. Aber ist das nicht wieder der Beelzebub, der den Teufel austreibt? Es
macht offensichtlich auch ethisch wenig Sinn, gutes und böses Handeln als
inkommensurabel zu bezeichnen, weil die moralische Differenzierung auf das
Miteinander beide Werte, auf die Einheit der Differenz angewiesen bleibt.
Eine moralische Reflexion, die beide Prinzipien beziehungslos nebeneinander
verwenden wollte, wäre ein aporetisches Unternehmen, weil sie keine
Aussagen mehr über richtiges Verhalten treffen könnte. Wer das Böse
radikalisiert und autonom werden lässt, begibt sich der Kritik. Insofern
sind die verhandelten Modelle unzulänglich, sodass jenseits der naiven,
aber praktikablen Unterscheidung, "gut" und "böse" zu
fragilen Kategorien werden. Die moralische Reflexion der Moral setzt einer
Vernunft, die doch praktisch sein will, erheblich zu, ohne dass noch der
Glaube bestünde, sich hier aus einer rein strategischen Option für diese
oder jene Differenzierung zweier moralischer Zustände noch befreien zu können.
Gegenüber manichäischen Wiederbelebungen oder axiomatischen
Ontologisierungen des Bösen ist es also vorzugswürdig, die Referenzen des
Wertschemas genauer anzugeben. Folgenbetrachtungen von Handlungen sind
„moralisch“ wichtiger als generelle Standortbestimmungen eines abstrakt
Guten/Bösen. Was passiert, wenn ich dieses oder jenes tue, wäre dann eine
kategorische Frage, ohne die Antwort in einem vorgeschalteten Imperativ zu
suchen, den alle (pflichtgemäß) Handelnden gegenzeichnen. Insofern besitzt
die moralische Reflexion selbst eine moralische Qualität, ohne der
Aufdringlichkeit einer machtorientierten Ethik verfallen zu müssen,
trennscharfe Unterschiede zwischen „gut“ und „böse“ zu verordnen. „Da
die Urteilskraft auf Andere reflektiert, ist nur der ‚böse’ Mensch, der
nicht urteilt, den Unterschied nicht kennt, zu allem fähig.“ Hannah
Arendt formuliert hier den intellektuellen Glauben, dass das Denken selbst
nicht böse sein kann. Nur der, der nicht denkt, sei böse. Wir gelangen
hier auf dem Weg der politischen Urteilskraft zu einer kommunikativen
Vernunft, die schon im Apriori „gut“ ist, weil Kommunikation in ihren
Geltungsansprüchen darin besteht, den Anderen anzuerkennen.
Zur
Konstruktion des Bösen bei Georges Bataille
Einen
völlig anderen Umgang mit dem Anderen markiert Bataille dagegen in einer
Erzählung Franz Kafkas, in der der Streit eines jungen Mannes mit seinem
Vater im Selbstmord endet. Hier entdeckt Bataille „das souveräne Gleiten
des Menschen ins Nichts – das die Anderen für ihn sind.“
Die Antinomie, als deren Opponenten Jürgen Habermas und Georges Bataille
gelten können und die Arthur Schopenhauer noch glaubte, in seiner
„Stachelschweinparabel“ besänftigen zu können, lautet: Einerseits bin
ich selbst je der Andere, wenn ich mich reflexiv auf ihn einlasse.
Andererseits ist der Andere völlig unbegreiflich, weil dieser Hiatus in der
monadischen Konstruktion des Menschen unüberwindbar bleibt.
Wie nun konstruiert sich
das Böse bei Georges Bataille? Das zentrale Problem jeder Theorie des Bösen
ist, wie wir gesehen haben, ihr Verhältnis zum Guten. Wie ist das Böse
denkbar, wenn nicht in Beziehung zum Guten? Für Bataille transgrediert das
Böse die Moral, was nur gelingt, wenn das Verbot existiert. Das Verbot
heiligt das Böse (Gerd Bergfleth), was sich in Opfern und Festen erfüllt,
in denen die verbotene Handlung, etwa das Töten des eigenen Kindes, zur
sakralen wird. Wer das Verbot abschaffe, demontiere dagegen irreversibel die
Erhebung des Bösen über die Moral. Batailles wichtigster Gewährsmann ist
de Sade, der das Lob des Exzesses und der Intensitäten über sämtliche
Eingänge seiner unheimlichen Schlösser eingraviert. Wer wahre Monster im
dunkelsten Wald der Triebe kennen lernen will, muss sich nicht erst in
Splatter-Filmen ergehen. Die übelsten Gesellen gehören zum typischen
Stammpersonal de Sade´scher Orgien. Hier wird so lüstern wie widerwärtig
gefoltert, gemordet und jede erdenkliche Niedertracht in allen Redundanzen
praktiziert. Oft sorgt sich der Orgientechniker de Sade, dass er es nicht
toll genug getrieben hat. Erregungsexzesse sind faktisch und literarisch
anstrengend. De Sades Akteure sind Transzendentalartisten des Bösen. Die Überbietung
des Bösen, am besten gleich die Vernichtung des Universums, deckt sich
unmittelbar mit Schellings radikalisiertem Begriff des Bösen: Das Böse führe
„den heftigsten Krieg gegen alles Seyn, ja es möchte den Grund der Schöpfung
aufheben.“ So könnte das Böse als Konkurrent der bestehenden
Wirklichkeit in virtuellen Zeiten besonders attraktiv werden. Gelingt es
erst Cyberworld als Überbietung literarischer Phantasien radikal böse zu
werden, weil der Grund der Schöpfung, ihre Exklusivität und
Einzigartigkeit demontiert werden?
Paradigmatisch wird der
materialistische Diskurs des von Georges Bataille bewunderten Libertins de
Sade, den Jacques Lacan zu Recht mit dem Pflichtenethiker und
Verbotstheoretiker Immanuel Kant verkoppelt hat, aus folgendem Grund: Orgien
repräsentieren kein simples Lustmodell, das lediglich darin bestünde,
jeder Phantasie instantan zu folgen. De Sade verfasste pedantische
Erregungsdrehbücher, die maßgeblich auf dem Verbot basieren, Grenzen
setzen und Überschreitungen, die bloßer Lust folgen, bei den „Wüstlingen“
ahnden. Oft entsteht der Eindruck, dass de Sade mehr über die normativen
Voraussetzungen der Erregungssteigerung nachdenkt als über den
physiologisch allfälligen Paroxysmus, der ohnehin literarisch kaum
beschreibbar ist. Soviel lehrt der göttliche Marquis für alle Lustnaiven:
Die böse Lust ist ein zu schwieriges Geschäft, als dass man es dem Zufall
überlassen dürfte. Jede Steigerung der Intensität muss sich über Verbote
hinwegsetzen, die de Sade entweder aus dem tradierten Kanon
christlich-abendländischer Tabus wählt oder aber relativ willkürlich
setzt. Ihre Verletzung in den normobsessiven Gesellschaften de Sades wird
unter drei dramaturgischen Varianten möglich: 1. Der Libertin hat diese
tradierten Werte der Gesellschaft längst nicht verlassen und gewinnt aus
einer schizoiden Stimmung heraus die Lust in ihrer Übertretung. 2. Der
Libertin glaubt nicht mehr an das gesellschaftlich verordnete Verbot, aber
provoziert die Gläubigen mit seiner Verletzung und gewinnt aus der
geliehenen Empörung seine Lust. 3. Die Norm/das Verbot werden künstlich
errichtet und der Wüstling verletzt sie. In dieser Variante ist das Gesetz
nur noch eine leere Form, was den relativ schwächsten Lusteffekt beschert.
Doch was ist, wenn das
Verbot im amoralischen und atheistischen Subjekt keinerlei Gültigkeit mehr
hat und das komplexe Verbotsspiel des göttlichen Marquis (Guillaume
Apollinaire) nur noch ridikül anmutet? Der nach Sartre nicht weniger
heilige Jean Genet markiert für Georges Bataille eine vergebliche
Auflehnung des Bösen, weil das Gute hier abgeschafft werde. Es ist der Weg
in die Abscheulichkeit, die von einer „lächerlichen Souveränität“
geprägt sei. Folglich gibt es keine Transgression mehr, obwohl dieser Ort
so heterologisch erscheint, dass Batailles fundamentale Abwehr nicht in
allen Momenten stimmig gerät. Das Spannungsmodell der Poesie kollabiere,
weil es seinen zentralen Gegenpol, das Gute, das Verbot, das
gesellschaftlich Vernünftige verliert. "Souveränität ist die Fähigkeit,
sich unbekümmert um den Tod über die Gesetze zu verheben, die die
Erhaltung des Lebens gewährleisten." Nach dieser suizidalen Souveränität
kann man nach Georges Bataille trachten, man kann sie aber nicht in einen Überbietungsdiskurs
schicken, der die Gesetze abschafft oder neue Gesetze sucht, die nur noch
dem Lob des Bösen folgen. Hier bricht die Kommunikation des literarischen
Modells zusammen. Jean Genet mag funkelnde Poesie schreiben, aber ihre
Kontingenz und Spannungslosigkeit lässt nach Bataille eine
Geschmacklosigkeit zurück, die den Leser erst verspotte und dann negiere.
Die je unvollkommene, aber
unabdingbare Referenz des Bösen auf das Gute macht die Verhältnisse unübersichtlich,
was Georges Bataille zur Einführung einer „Hypermoral“ veranlasst, die
jene alte Moral des Verbots transzendiert und sich zum Bösen komplizenartig
verhält. Jenes von Bataille so emphatisch gesuchte Böse wird in ihr
bewahrt. Die Hypermoral ist durch und durch hegelianisch konstruiert, weil
die abgelegte Moral so wie das Verbot in neuen Formen spannungsreich
aufgehoben werden. Batailles Interpret Gerd Bergfleth hat dieses Paradoxon
so formuliert, dass gerade die strenge Einhaltung der Moral ihre Umkehrung
ermöglicht, hier werde das authentisch Böse möglich, nicht in den laxen
Verhältnissen der Alltagsmoral. Diese Unterscheidung findet sich ähnlich
bei Hannah Arendt: „Das radikal Böse entsteht immer, wenn ein radikal
Gutes gewollt wird.“ „Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller
Maximen verdirbt“, warnte Immanuel Kant, der vom „bösen Herzen“ und
letztlich der Schwäche spricht, die guten, d.h. die von ihm erkannten
Maximen nicht zu praktizieren. Gut und Böse sind in der Hypermoral nicht
wie in der Vernunftmoral antagonistische Prinzipien, sondern korrespondieren
nach Georges Bataille in der Weise, dass die Leidenschaften nicht länger
ausgeschlossen bleiben. In den souveränen Impulsen zeige sich, dass das
leidenschaftlich Böse höherrangig als das Vernunftgute ist. Das Böse und
die Sexualität besitzen dabei gemeinsam die Eignung, die bestehende
Ordnung, die Ordnung der Vernunft zu durchbrechen. Ihre Kollusion, wenn
nicht Verschmelzung wird notwendig, um die je als drückend empfundene
Herrschaft rationaler Lebensführung im heterologischen Ereignis zu
durchbrechen. Die Sphären der Vernunft, der Arbeit und ihrer
zivilisatorischen Absicherungen werden in zahllosen Normen und
Ordnungsstrukturen gebildet, sodass die Gewalt einer überquellenden Natur
nur noch in domestizierten Formen, paradigmatisch im Opfer, zugelassen
werde. Batailles (ungelöstes) Problem bleibt dabei das Verhältnis des
Exzesses zu einer vernünftigen Ordnung, die entweder den Exzess oder seinen
Widerpart notleidend machen. Gerade die Entwicklung der Opferkultur, anfänglich
noch von Menschen- und Tieropfern geprägt, sublimiert sich zu einem
symbolischen Ritual, dem damit der wahre Stachel des Exzesses genommen wird.
Übrig bleiben dann von den aztekischen Menschenopfern Posadas
Wackelskelette, die das heilige Opfer in das fröhlich Groteske überführen.
„Je
sauberer du bist, desto schmutziger wird’s!“ (Axe Shower Gel-Werbung
2011)
Aus Batailles
naturalistischem Rettungsversuch des Verfemten erwächst längst keine ökonomische
Ordnung der Hypermoral, die jene auseinanderstrebenden Züge menschlicher
Existenz triebökonomisch harmonisieren könnte. Insofern stellt sich in
dieser literarischen Theorie des Bösen dasselbe Problem, das bereits seine
totalisierende Theorie der „Aufhebung der Ökonomie“ trifft. Im Kosmos
Batailles gibt es disparate Zustände, die wie er oft betont, zwei Zielen
folgen: einem negativen, lebenserhaltenden und einem positiven, intensitätssteigernden.
Dabei führen diese Zustände zu einer unaufgelösten Spannung, wenn ein
vorgeblich natürliches Modell des Überflusses und der Verschwendung mit
dem individuellen Anspruch der Intensität, aber auch des Überlebens
gekoppelt werden soll. Zur letzten Erkenntnis führe nur der Weg, dass sich
die Erkenntnis des Nützlichen und die im Sinne Batailles nachgeordnete
Vernunfteinrichtungen auflösen. Die wahre Erkenntnis gehe das Risiko der
Vernichtung des Erkennenden ein.
Batailles Theorie der
Verschwendung zielte darauf ab, das geläufige Knappheitsmodell des
Wirtschaftens in eine fundamental andere Ordnung der Verteilung von Überschüssen
zu verwandeln. Die Natur präsentiere Luxus, sodass dem im planetarischen Maßstab
eine Ökonomie zu folgen habe, die sich entweder für eine gloriose oder
eine katastrophische Wendung entscheiden kann. Kurz gefasst: Entweder
Verschwendung oder Krieg. Jürgen Habermas hat hiergegen zu Recht
Einwendungen erhoben. Denn wie sollen heterogene Zustände, die Souveränität
im Sinne Batailles und das vernünftige Subjekt in einer konkreten
Lebenspraxis zusammenfinden? Ein so schwieriges wie emphatisches Modell
bleibt ein Desiderat, das zwar literarisch formuliert werden kann, aber in
den verschachtelten Beziehungen von System und Lebenswelt stecken bleibt. Es
kommt zu einem "unschlüssigen Hin und Her", weil es in letzter
Konsequenz den Mythos der wilden gefährlichen Natur (des Menschen) beschwört,
dem sich der Mensch stellen muss, wenn er wirklich erkennen will. Batailles
Unschlüssigkeit lässt sich zugleich als libidinöses Modell deuten, das
sowohl seine literarischen Vorlieben wie seine eigene Triebhaushaltspolitik
demonstriert. Winfried Menninghaus beschreibt in der "affirmativen Ästhetik
des Abstoßenden" eine "Prozessierung des Ekelhaften", da
nach Bataille zentral die Erkenntnis ist, gerade dem ausgeliefert zu sein,
was ekelhaft ist. Ekel und Überwindung erscheinen ihm als permanentes
Dekompositionsprinzip, in dem sich erst der Sinn des Lebens ausdrückt. Das
soziale Leben konstituiere sich geradewegs über den wechselnden Rhythmus
von Attraktion und Repulsion, der zu Gewalt, Verausgabung und Tod führe.
Insofern ist im Erotischen das Verworfene zugleich der Auslöser der
erotischen Attraktion, was jenseits einer ästhetischen
"Besudelungstheorie" die Spannungspole bezeichnet, in denen sich
Bataille bewegt - eben ein "Hin und Her", das sich nicht durch
Psychoanalyse oder ähnliche Magie befrieden lassen will.
Diese Überschreitung des
Verbots, um den verfemten Lüsten zu folgen, kollidiert mit den Forderungen
der ausgrenzenden, das Subjekt beherrschenden Vernunft. Auch hier gelangen
wir zur eigentlichen Schnittstelle der Paradiesgeschichte zurück: Wer sich
für den Baum der Erkenntnis entscheidet, wird in die Welt der Vernunft, der
Arbeit, des Kampfes um das Dasein hineingestoßen. Wie Georges Bataille am
Beispiel Jules Michelet demonstriert, gelingt dann der Ausgleich im
einzelnen und beim Einzelnen allerdings auch in weniger existenzieller
Weise, ob sich das nun dialektisch und produktiv im Anspruch des
Schriftsteller verwirklicht oder als Grundkondition disparater Verhältnisse,
beide Zustände zu suchen und ihre Inkommensurabilität in der Zeit aufzulösen.
Michelet behebt Schreibwiderstände durch den widerlichen Geruch von Bedürfnisanstalten,
was dem Energiemodell Batailles entspricht, über Ekel und Widerwillen
intensive Zustände zu produzieren. Friedrich Schiller hatte es da noch
erheblich einfacher mit seiner Wahl verrotteter Äpfel, was immerhin zur der
Erkenntnis aufschließt, dass der Geruch das intensivste Erleben, vielleicht
also auch das böseste eröffnet. Die andere Variante findet sich in der
Souveränität Franz Kafkas, der den Vater und seine Welt flieht und deshalb
ein Kind bleiben will: „Er wollte mit einem Wort, dass die Existenz einer
grundlosen Welt, deren Bedeutungen nicht einzuordnen sind, die souveräne
Existenz bleibe, die nur möglich ist, insofern sie den Tod verlangt.“
Diabolische Poesie
Georges Bataille hält
Exzesse letztlich nicht für gesellschaftsstiftend, vielmehr sieht
er in ihnen so elementare wie originäre Ansprüche „endlicher Wesen“.
Im Exzess überschreiten wir die Sorge um das Selbst, die zivilisatorisch
verdrängte Angst vor dem Tod, in dem wir ihm wirklich nahe sind. Der Exzess
ist der transzendentale Akt des Daseins, die tiefste Revolte des Menschen
gegen seine „Geworfenheit“, ohne die indes eine gesellschaftliche
Ordnung nicht möglich ist. Da zum menschlichen Leben die „gewaltsame
Erregung“ gehöre, könne man nicht auf die Künste verzichten. Mit diesem
Wissen um die „Literatur und das Böse“ importiert Bataille eine ästhetisch
moderierte Intensität, die sublimiert „auslebt“, was als Exzess radikal
formuliert wird. Jenseits psychologischer oder ontologischer
Zustandsbeschreibungen entsteht aus diesem Glauben eine produktive
literarische Theorie, die zahlreiche literarische Epiphanien des Bösen je
schon demonstrierten. Gegenüber der mitunter der Pose anverwandelten
Exzessivität erweist sich Georges Bataille damit als heimlicher Kathartiker,
der den so verfemten wie unabdingbaren Untergrund von Zivilisation und
Kultur bezeichnet, ohne nun in einer blanken oder gar politisch
systematisierten Revolte Prinzipien kollektiver Selbsterhaltung
abzuschaffen. Bataille war im bürgerlichen Beruf Bibliothekar, der neben
der Theorie erotische Werke verfasste, die gegenüber den Exzessen de Sades
eher überschaubare Fantasien inszenierten. Insofern ist es schwer, in
diesem leidenschaftlichen Plädoyer einer abundanten und verworfenen Natur
anderes als literarisch raffinierte Fantasien zu sehen, denen eben politisch
keine postbürgerlich radikalisierte Kultur eines leidenschaftlichen
Heidentums folgt.
Diese nur vordergründig
erstaunliche Wendung des literarischen Exzesses macht klar, warum
Schriftsteller zu Sachwaltern des Bösen werden konnten. Schriftsteller verführte
je das Böse, weil es der herausragende dramatische Spannungspol ist, in dem
die Verstrickung des Menschengeschlechts in einen katastrophischen
Weltenlauf sehr viel eindringlicher geschildert werden kann als in den
Konkurrenzerzählungen ewiger Liebe. Der Kurzschluss beider, in der „La
divina comedia“ und im „Faust“ ist dann der eigentliche literarische
„overkill“. Faust hat viele Schriftsteller motiviert, den Pakt mit dem Bösen
zu schließen. Hier avanciert das Böse zum Prinzip einer Verführung zum
Augenblick, zur Welthaftigkeit des wahren Seins, das der Teufel seiner
Kundschaft schon immer versprach. Er bietet - wie er es schon zuvor Jesus
gegenüber getan hat - die Schätze der Welt an, die Erfüllung aller
diesseitigen Wünsche, wenn nur der Mensch sich an den Pakt hält. Denn der
Teufel will doch bloß die Seele für ein irdisch unüberbietbares Vergnügen,
für die Schätze der Welt und die greifbaren Sinnlichkeiten, über die er
verfügt. Bis heute verbünden sich in dieser Rollenzuweisung Schriftsteller
mit dem Bösen, weil es die immer flüchtigere Aufmerksamkeit in sinnlicher
Direktheit garantiert. Friedrich Schillers Drama "Die Räuber" führte
angeblich bei seiner Erstaufführung zu tumultartigen Szenen: „...das
Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende
Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander
schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es
war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung
hervorbricht!“ Der Unterschied zwischen Schauspieler und Figur war
medienkompetentiell noch nicht hinreichend differenziert, was indes in den
heutigen Verwischungen prominenter Ikonen längst nicht so fundamental
anders ist. Wer oder was ist Lady Gaga? So wird der Mythos der Figur über
die Rolle hinaus produziert, was das kapitalistisch wuchernde Star-System so
transgressiv und leidlich lustvoll macht.
Georges Bataille leitet
seine literarischen Betrachtungen mit der Feststellung ein, dass seine
Generation „tumultuarisch“ ist. Im Blick auf jene furiose Erstaufführung
Schillers ging es aber um einen umgekehrten Tumult, weil die Intensitäten
der Literatur im Laufe langer Schreibzeiten erheblich gelitten hatten. Die
Literatur war zur Zeit des frühen Bataille nur noch Literatur, Teil eines
Betriebs, institutionell erstarrt. Diese Grenzen wollten Dadaisten,
Futuristen und Surrealisten sprengen, was zwangsläufig die Frage nach
entschiedeneren, härteren, direkteren, mit anderen Worten, böseren Mitteln
forcierte. Für Jean-Paul Sartre
stellte sich das so dar: „Sobald die Poesie sich das Böse zum Gegenstand
wählt, vereinen sich die beiden Arten einer Schöpfung mit begrenzter
Verantwortung und gehen ineinander über.“ Bernard-Henri
Lévy lehnt für Sartre zwar die Vorstellung ab, dass sich das Gute und das
Böse - in welcher Dialektik auch immer - versöhnen. Für Sartre existiere
das Böse als komplementäres, aber antagonistisches Prinzip. Zugleich
verweist Sartre aber auf die uns inzwischen wohl vertraute hinkende
Dialektik, wenn er die Sünde als Anerkennung des Guten nobilitiert.
In der literarischen Welt
liegt diese Motivwahl aber nicht nur in der poetischen Expressivität des Bösen,
sondern vielleicht mehr noch darin, das Böse zu beherrschen. Dieses
semantisch geformte Böse tut nicht weh, worauf Roland
Barthes in seinen Bemerkungen zu de Sade hingewiesen hat. So wie die
Lust an vielen abjekten Zuständen ist das Böse in den manipulierten
Zeichen sicher domestiziert, was dann die ästhetische „Rehabilitation des
Bösen“ (Peter Brinkemper) bei späteren Adepten wie Karl Heinz Bohrer und
anderen Vertretern des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs gut verkraftbar
erscheinen lässt. Ästhetische Sicherheiten lassen jeden Schrecken zu.
Dieser Diskurs des Schreckens, der das Unbehagen in der Zivilisation
spannungsgeladen zombifiziert, hat viele Ableger. So ist die Literatur seit
dem 18. Jahrhundert angefüllt mit diabolischen Szenen, während die
gesellschaftlichen Kontexte immer vernunftgeladener werden und das heilige
Opfer nur noch eine Reminiszenz ist. Im furiosen Klassiker zur schwarzen
Romantik "Ritter, Tod und Teufel" analysierte Mario Praz die
diversen Aufgipfelungen des laut tönenden bis sublimen Bösen, das in der
Literatur in dem Moment mit poetischer Macht auftritt, als seine besten
Zeiten auf den realen Scheiterhaufen dieser Welt längst vorbei sind. Der
Teufel und seine Varianten, Vampire, Werwölfe, Monster, Wiedergänger
markieren das Gegenprinzip zu einer rationalisierten Welt, die so viel
Unbehagen auslöst, dass sie sich in den schwarzen Phantasien vom
Zivilisationsdruck erholen muss. Das Böse ist das unangepasste Prinzip, der
inkarnierte Widerborst, die Kontingenz, der schreckliche Zufall, der eben in
technophilen Gesellschaften längst nicht ausgetrieben ist. Das Böse
wandert in das System ab (Florian Rötzer), verwandelt sich zu einer immer
bedrohlicheren Tücke des Objekts und einer logistisch operierenden
Herrschaft der Administratoren. In der Rationalisierung der Welt begreift
sich das literarische Prinzip als Irritation, als Provokation einer
metaphysisch entzauberten Ordnung, die das Subjekt nur noch als solches
gelten lässt. Dieses Subjekt verfügt weder über sich selbst noch findet
es Remeduren in einer zuvor metaphysisch so spendablen Welt. Die Literatur
steht außerhalb wie innerhalb dieser Welt, wenn sie jene Zustände
beschreibt, die der vorgängigen Ordnung ausgetrieben wurden.
Doch schon erhebt sich die
Frage, inwieweit die rationale Ordnung der Wirklichkeit nicht selbst eine Prätention
ist, während sich permanent in diesem Anspruch just jene Exzesse
vollziehen, die weder literarisch heterologisch noch pathologisch respektive
kriminologisch weggeräumt werden können. Insofern wartet die
rationalisierte Wirklichkeit nicht weniger mit dem „Bösen“ auf, dessen
Perfidie nun gerade darin liegt, sich zu entschwefeln und in System- und
Technikimperativen auf Unsichtbarkeit zu hoffen. Der faschistische Staat
wird zum Faszinosum, was Georges Bataille den Vorwurf einbrachte, hier in
Abgrenzungsnöte seiner Theorie zu geraten. Bleibt für die Literatur in
diesem flüchtenden Diskurs überhaupt noch Stoff übrig?
"Aber natürlich ist für
die Geschichte des Bösen die Erfahrung der Shoa eine ganz besondere. Durch
sie kommt die Frage auf, ob man das Böse noch ästhetisieren darf."
(Peter-André Alt) Nicht nur hier erweist sich Theodor W. Adornos Verdikt
als folgenreich, wiewohl gerade die pointierte Ästhetisierung seiner
Philosophie in ihrer eigenen Selbstbespiegelung eine durchaus ambivalente
Antwort auf die Frage gibt. Die Gratwanderung, den Schrecken zu positivieren
und ihn andererseits als das Erhabene, der Anschauung Entzogene zur
Literatur werden zu lassen, demonstrierte zuletzt Jonathan
Littells "Die Wohlgesinnten" (http://www.glanzundelend.de/Artikel/littellpalm.htm).
Das Böse in der Literatur
und noch stärker in neuen Medien ist jenseits des sich selbst bestreitenden
Verdikts gegen seine Poetisierbarkeit zu einer Spielfigur geworden, die
einerseits die dramatische Spannung sichert, andererseits aber auch das
Groteske, Lächerliche in unzähligen Horrorfantasien garantiert. Der
Exzess, der Georges Bataille so unabdingbar als Moment der conditio humana
erschien, wird "in der verwalteten Welt" oft genug auf
Schwundstufe gefahren. Müssen wir das so reine wie heilige Böse unter
Artenschutz stellen? Das Böse ist jedenfalls gefährdet, vom realen
Schrecken in die banale Ästhetik der Geisterbahn und ihrer
Nachfolgeeinrichtungen verräumt zu werden. Von dieser Banalität spricht
Hannah Arendt nicht, sondern von einem Bösen, das sich (vergeblich) dem
Zugriff durch seine personale Freizeichnung im administrativen Kontext, in
der verdinglichten Sphäre des Staates entziehen will. Die Diskussion über
Hannah Arendts Diktum macht weiterhin die Fährnisse einer instrumentellen
Vernunft deutlich. Denn es bleibt das Banale wie das Radikale des Bösen als
Diskurshemmnis bestehen, als die Provokation, woran nach Arendt das Denken
scheitert. Insofern könnte der literarische Widerstand gegen das vordergründige
Verstehen wichtig bleiben, der provokanter ist als die zahlreichen
Kategorisierungsversuche, das Böse in den rationalen Griff nehmen und endgültig
austreiben zu wollen. "Die Literatur und das Böse" bleibt hierin
trotz aller Ambivalenzen des verhandelten Modells, den Exzess als natürliches
Dasein zu feiern, eine eminent wichtige Verunsicherung unserer triebökonomischen
Selbstbeschreibungen, die offensichtlich wenig geleistet haben, so
unterschiedliche Horrorszenarien wie Abu Ghraib oder das
Familienvergewaltigungsverlies des Josef Fritzl bis hin zum alltäglichen Töten
und Foltern in vorgeblich chirurgischen Kriegen endgültig in die Geschichte
menschlicher Irrungen und Wirrungen zu versenken. Wer sich nicht in persönlicher
Selbstbefragung auf den Diskurs Georges Batailles einlässt, läuft
jederzeit Gefahr, sich just dem Personal zuzugesellen, dessen so exzessive
wie bewusstlose Haltlosigkeit je die besten Gründe fand, zum Wolf des
Menschen zu werden. Denn wie erläuterte Josef Fritzl sein schändliches
Tun: "Ich hab' es eigentlich gut gemeint." Hätten die Diktatoren
dieser Welt sehr viel anders geredet? Wir lesen dagegen „Die Literatur und
das Böse“ in der Hoffnung, so böse zu werden, wie es eine Welt verdient,
die stets das Gute verkündet und nicht
stets, aber oft genug,
damit das Böse schafft.
Goedart
Palm
Literatur
Alt,
Peter-André: Ästhetik des Bösen, München 2010
Arendt,
Hannah: Über das Böse, München 2007
Arendt,
Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen,
München 1986
Bataille, Georges: Die
Literatur und das Böse: Emily Bronte - Baudelaire - Michelet Blake - Sade -
Proust - Kafka – Genet, Berlin 2011
Peter
V. Brinkemper: Peter-André Alts
»Ästhetik des Bösen«, in: Glanz und Elend, Das Böse - ein wildes
Konzert der Gefühle, unter: http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/a/alt_peter_andre.htm
Andreas Hetzel, Peter
Wiechens (Herausgeber): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg
1999
Eagleton,
Terry: Das Böse, Berlin 2011
Habermas,
Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen,
Frankfurt/M. 1988
Bernard-Henri
Lévy: Sartre, München Wien 2002
Lorenz, Konrad: Das
sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggressivität, München 1998
Winfried Menninghaus: Ekel.
Theorie und Geschichte einer starken Empfindung,
Frankfurt/M. 2002
Rötzer,
Florian (Hrsg.): Das Böse. Jenseits von Absichten und Tätern oder: Ist der
Teufel ins System ausgewandert?, Göttingen 2002
Safranski,
Rüdiger: Das Böse, Frankfurt/M. 1999
Twain, Mark, Der
geheimnisvolle Fremde, in: Werke in neun Bänden, München 1985, Band 2, S.
435 ff.
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